Mit und ohne Netz

Mit dem Jürg Wickihalder European Quartet hat am Freitag ein neuer, etwas anderer Ton im jeden Abend nahezu ausverkauften “Stone” Einzug gehalten. Das Quartett mit Irène Schweizer, dem Bassisten Fabian Gisler und dem Schlagzeuger Michael Griener spielte das vielleicht “jazzigste” Set des bisherigen Festivals. Wickihalders Kompositionen, die auch auf der CD “Jump!” zu hören sind, stehen am ehesten in der Tradition des Postbop – nicht von ungefähr, denn Irène Schweizer und Jürg Wickihalder haben sich über ihre gemeinsame Liebe zu Thelonious Monk und Steve Lacy kennengelernt. Quirlige, bei aller Raffinesse leichtfüssig wirkende Themen, über die Wickihalder und Irène Schweizer mit viel Spielwitz und stupender Virtuosität ihre Girlanden und perlenden Tonkaskaden spannen. Fabian Gisler und Michael Griener lassen die Musik über weite Strecken “klassisch” swingen. Unüberhörbar: Die vier sind ein perfekt aufeinander eingespieltes Team, das ohne lange Suchläufe und vorsichtige Annäherungen gleich zur Sache kommt. Ein New Yorker Jazzkritiker, der für diverse Fachzeitschriften und Zeitungen schreibt, fast jeden Abend im “Stone” aufkreuzt, dessen Visitenkarte mir leider abhanden gekommen ist, fragte mich nach dem Konzert: “Warum wissen wir hier eigentlich so wenig über den grosartigen Schweizer Jazz?” Ich weiss nicht, ob ihm meine Antwort gefallen hat: “Weil die amerikanischen Jazzkritiker so chauvinistisch sind.”

Dass das zweite Set des Abends etwas verhaltener, zögerlicher begann, ist nur verständlich. Wer hätte nicht eine gehörige Portion Respekt, wenn er plötzlich mit einem der fulminantesten Posaunisten der Jazzgeschichte auf der Bühne steht? Aber Ray Anderson, der unkomplizierte Sunnyboy der New Yorker Jazz, machte es dem E-Bassisten Jan Schlegel und dem Schlagzeuger Dieter Ulrich leicht; der mit allen Wassern gewaschene Routinier liess sich ohne Weiteres auf die feingesponnenen, sublimen, zuweilen etwas spröden Klanggespinste der beiden Schweizern ein. Da hatten wir sie wieder, die freie Improvisation als gewagtes Spiel ohne Netz, die hohe Kunst, scheinbar unabhängige, disparate Soundpartikel und rhythmische Figuren in näherer und fernerer Distanz um einen imaginären musikalischen Schwerpunkt kreisen zu lassen. Auch wenn man den munteren Posaunisten, der in den 70er-Jahren mit seiner Funk-Gruppe “Slickaphonics” das Publikum von Moers bis Montreux zum Rasen brachte, gern auch einige Minuten lang beim urigen Grooven zugehört hätte.

Christian Rentsch

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