Sonntagmorgens geht es nach Harlem, um einem Gospelgottesdienst in der Shiloh Baptists Church beizuwohnen, einer „black church“ am Adam Clayton Powell Jr. Blvd, die mir vom Bluesforscher Sam Charters empfohlen worden war. Wir sind nicht die einzigen weißen Gäste in einem „Service“, der manchmal beinahe ekstatische Züge annimmt. Eine Hymne jagt die andere, von einer Jimmy-Smith-Orgel und einem Schlagzeug begleitet. Die Gemeinde heisst uns Gäste ausdrücklich willkommen, besteht ab zurecht darauf, dass ihr Gottesdienst nicht zum Touristenklamauk verkommt. „No photographs!“ bellt mich eine Ordnerin im weißen Kostüm prophylaktisch an, als ich die Kirche betrete und sie meinen Rucksack erspäht.
Als Konzertfotograf hat man es nicht leicht. Manuel Wagner, mein Neffe, der in Stuttgart als Retoucheur und Fotograf (viel für die Autoindustrie) arbeitet, covert das gesamte Festival, von INTAKT dazu bestellt. Patrik Landolt war eine einzige ästhetische Handschrift wichtig. Im Gegensatz zur Fotografin des Downbeat, die nur zu einem Konzert erschien (Malaby/Griener/Friedli) und total professionell, deswegen aber auch ohne Rücksicht auf Verluste, in die leisesten Passagen hineinknipste, bemüht sich Manuel möglichst dezent zu agieren und trotzdem interessante Bilder zu schießen, wofür es zwingend ist, den richtigen Augenblick zu erwischen. Dafür muss Manuel vor allem von ein paar Konzertbesuchern aus der ersten Reihe gelegentliche Anfeindungen in Kauf nehmen. Er ruiniere ihren Kunstgenuss, lauten die Vorhaltungen. Wir nennen diese Zeitgenossen inzwischen „Jazz-Taliban“, weil sie nichts als den reinen, puren, unbefleckten Konzertgenuss suchen. Manuel sieht sich von solchen Fans vor die nicht ganz leichte Aufgabe gestellt, das Festival bildlich zu dokumentieren, doch am besten keine Fotos zu machen.
Andrew Cyrille, Schlagzeug-Meister, bekannt vor allem durch seine jahrelange Zusammenarbeit mit Cecil Taylor, bildete die Achse der Konzerte vom Sonntag. Zuerst trat er im Duo mit seinem Bandkollegen vom Trio 3, Oliver Lake, auf, im zweiten Set dann mit Irene Schweizer. Der Auftritt mit Lake wurde zu einer Manifestation der „great black music“. Ob afrikanische Trommelpattern, ekstatische „Blow Outs“ oder swingende Nummern – Cyrille und Lake schöpften aus dem gesamten Kosmos schwarzer Musik. In einer Trommelkomposition verneigte sich Cyrille vor Art Blakey, einem der Erfinder des modernen Jazzschlagzeugspiels, der mit seinem Album „Orgies of Rhythm“ das afrikanische Kontinuum unterstrich und Wesentliches zur Emanzipation des Instruments beitrug.
Cecil Taylor hatte vor Jahren Andrew Cyrille auf eine Schweizer Pianistin aufmerksam gemacht und ihm eine Zusammenarbeit mit ihr empfohlen. Im STONE wurde die inzwischen langjährige Verbindung von Cyrille mit Irene Schweizer aufgefrischt. Obwohl mittlerweile im Pensionsalter, spielt Schweizer so frisch wie eine Neueinsteigerin, schüttelt mit Leichtigkeit perlenden Läufe aus dem Ärmel und lässt die Finger nur so über die Tasten jagen oder tanzen. Dabei hat ihr Spiel eine genauso starke rhythmische wie melodische Komponente. Als „Chorus“ einer Improvisation zitierte sie eine Komposition von Don Cherry. So frei Schweizer auch spielt, sind ihre Wurzeln in Bebop und Hardtop doch immer präsent. Cyrille stellte sich darauf blendend ein. Er ließ die Trommeln sprechen oder markierte mit relaxtem Spiel auf den Becken einen losen Swing. Rundum ein äusserst geglückter und konsistenter Abend!
Christoph Wagner