Kulturzeitschrift DU, Juni 2008

Jazzwunderland Schweiz



Text von Patrik Landolt

„Lässt sich denn davon leben?“, fragte mich ein befreundeter Journalist, als ich vor einigen Jahren meinen Beruf vom Redakteur zum Verleger wechselte. Ich hatte während zwanzig Jahren zuerst in meiner Freizeit, später dann mit einem kleinen Teilzeitpensum den Jazzverlag Intakt Records aufgebaut und hundert CDs produziert. Nicht ohne Erfolg: Gerade war die CD-Box Monks Casino – eine umfassende Sammlung der Kompositionen von Thelonious Monk, gespielt von der Berliner Band Die Enttäuschung und dem Jazzpionier Alexander von Schlippenbach – mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet worden. Gerade hatte die wichtigste amerikanische Jazzzeitung, die im Jazz-Apple New York angesiedelte Monatszeitung All About Jazz New York unseren kleinen Schweizer Verlag zum CD-Label des Jahres gewählt mit dem charmanten Lob: „Kleines Budget, aber immense Qualität“. Der Erfolg hatte einen Anfall an Arbeit zur Folge. Der Verlag ließ sich nicht mehr nebenbei führen. Obwohl die sich verschärfende ökonomische Krise des CD-Marktes wie das Fallbeil einer Guillotine über dem CD-Business schwebte, kam mir die Frage meines Journalistenkollegen doch antiquiert schweizerisch vor. Immerhin sind einige traditionelle Leuchttürme des Schweizer Sicherheitsbedürfnisses, etwa die Großbanken oder die Schweizer Armee, ins Wanken geraten.

Vielleicht ärgerte mich diese Frage auch, weil die Frage nach der ökonomischen Existenz die entscheidende Frage ist, der sich jeder Verleger, aber auch die Musiker, stellt. Und: die jeder Kulturschaffende gleichzeitig umschiffen, umgehen, verdrängen muss. Die Akteure der Jazzwelt sind Meister der Verdrängung des Ökonomischen. Wie, wenn nicht mit einer geradezu halsstarrigen Versessenheit aufs Künstlerische, die das Wirtschaftliche in den Hintergrund stellt, hätte in den 1960er-Jahren eine junge Frau wie Irène Schweizer beschließen können, Jazzpianistin zu werden: Freejazz-Pianistin! Irène Schweizer lebt nun seit gut dreißig Jahren als Konzertpianistin. Die meisten ihrer klugen Musikerkollegen spielten Jazz nach der normalen Erwerbsarbeit. Der Ort der Radikalität lag in der Freizeit. Einige machten, nebenbei Saxophon blasend, Karriere als Arzt oder Lehrer. Einer, der als Student leidenschaftlich Jazztrompete spielte, wurde sogar Bundesrat. „Lässt sich denn davon leben?“, war also die rhetorische Frage, die auf die ökonomische Schwäche und somit auf die Exotik einer ganzen Musikszene hinweist. Wie kann jemand Verleger von Jazzmusik werden in einer Zeit, da die Zukunft der CD ungesichert ist? Oder wie kann jemand Jazzmusiker werden, wo doch der Mainstream das Showbusiness beherrscht?

Oh, Europa!
Es ist die Faszination für die Kunstform Jazz und der Einblick in den wundersamen künstlerischen Reichtum der aktuellen Jazzentwicklung, die mir die Vermittlungsarbeit als Verleger täglich aufregend erscheinen und mich den ökonomischen Wahnsinn dieser Tätigkeit leicht verdrängen lassen. Die Innovation im Jazz hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten von Amerika, der Wiege des Jazz, nach Europa verlegt. Städte wie Berlin oder Zürich sind Zentren aktueller Jazzkreation geworden. Wer heute die Jazzszene Europas betrachtet, ist weit entfernt vom Seufzer der politischen Philosophie „Ach, Europa“. In Europa erlebt heute der Jazz eine bislang unbekannte Blüte. Noch nie wurde so viel Jazz gespielt, noch nie gab es so viele Jazzmusikerinnen und -musiker, Veranstaltungsorte und Jazzlabels. Der Effekt ist aber auch eine große Unübersichtlichkeit. Oh, Europa!

Die Jazzkritikerlegende Wilhelm Liefland beschrieb die Entwicklung zur Unübersichtlichkeit schon zu Beginn der 1970er-Jahre als den größten „qualitativen Bruch in der Geschichte des Jazz“. Konnte der Jazz in den 1950er- und 1960er-Jahren noch Stars wie Charlie Parker, Thelonious Monk, Miles Davis oder John Coltrane präsentieren, die eine überschaubare Jazzentwicklung repräsentierten, verunmöglicht eine vielfältig gewordene Jazzwelt solche Trendpräsentationen. Neue Entwicklungen und interessante Innovationen finden, vom Publikum und den großen Medien und Festivals unbemerkt, oft an den Rändern statt. Die Jazzszene ist in eine Vielzahl sich vermischender Stile und im Sinne einer Zellteilung voneinander abgespaltener Szenen ausdifferenziert.

Die Zahl der jährlich erscheinenden Jazz-CDs ist trotz der vom Musikgeschäft beklagten Verkaufsrückgänge gigantisch. Die internationale Jazzwelt präsentiert heute über Hunderte von MusikerInnen-Persönlichkeiten unterschiedlichster Spielweisen und Stile. Hingegen fehlen zugkräftige Einzelfiguren, die die großen Festivalsäle füllen könnten oder CDs in hohen Auflagen verkaufen. Dies sind Phänomene, die nicht nur einen Teil des Publikums, sondern auch Festivalmacher und Medienleute verunsichern und überfordern.

Der deutsche Jazzkritiker Bert Noglik schreibt dieser Entwicklung auch positive Seiten zu: „Die viel zitierte neue Unübersichtlichkeit ist einerseits Ausdruck des Auseinanderfallens, andererseits aber auch Spiegel von Demokratisierungsprozessen“, begünstigt durch neue kulturelle Bedürfnisse und neue Produktionsbedingungen im Jazz. Der Wirrwarr von Stilen und Musikentwicklungen sowie die dezentrale Vielfalt von kleineren Festivals, Clubs und Labels sind Ausdruck einer lebendigen und kreativen Jazzwelt.

Originalität auf engstem Raum
Die Schweizer Jazzwelt ist dafür ein gutes Beispiel: Gerade das Jazzgeschehen zwischen Genf und Zürich, Chur und Luzern findet in zahlreichen Parallelwelten statt. In einer Vielfalt von Szenen, die zueinander lose Kontakte pflegen, sich sowohl austauschen wie auch abgrenzen, bewegen sich mehrere Hundert aktive Musikerinnen und Musiker.
„Jazz-Wunderland Schweiz“ titelte der Jazzkritiker Hansjürgen von Osterhausen einen Bericht über das Schweizer Jazzfestival Schaffhausen im deutschen Jazzmagazin Jazzpodium. „Die Schweiz hat eine der vielfältigsten Szenen Europas“, betont der deutsche Jazzpublizist Bert Noglik, ein ausgewiesener Kenner des internationalen Jazzgeschehens: „Eine immense Ansammlung von Originalität auf engstem Raum.“ Schweizer Jazzmusiker stehen seit mehreren Jahren regelmäßig auf den Bühnen internationaler Festivals und Clubs. Es sind Musiker aus allen Sparten des Jazz – Avantgarde oder traditionellem Jazz –, die es in der Welt des Jazz zur Reputation gebracht haben. Persönlichkeiten wie Pierre Favre, Irène Schweizer, George Gruntz, Hans Hassler, Urs Leimgruber, Christy Doran, Koch-Schütz-Studer, Susanne Abbuehl, Co Streiff, Erika Stucky, Sylvie Courvoisier, Harald Haerter, Charlotte Hug, Jacques Demierre, Fritz Hauser, Jojo Mayer, Norbert Möslang, Malcom Brath, Daniel Schnyder, Matthias Ziegler oder Thierry Lang, um nur ein paar Namen zu nennen, sind an den wichtigsten Jazzfestivals der Welt oft gesehene Gäste. Die Pianistin Irène Schweizer hatte letztes Jahr eine erfolgreiche Konzerttournee in den USA und ist erneut für drei Auftritte in unterschiedlichen Besetzungen ans Columbia/Harlem Festival of Global Jazz nach New York eingeladen. Wer denkt, dass die Szene überaltert ist, irrt – auch Musiker der jüngeren Generation erspielen sich international einen Ruf: Der Pianist Nik Bärtsch tourt mit seiner Band Ritual Groove Music mit Erfolg um die Welt. Der Schlagzeuger Lucas Niggli ist nicht nur an den bedeutenden europäischen Festivals wie Moers und Saalfelden zu hören, sondern auch für mehrere Touren wochenlang in Europa unterwegs. Die Namen jüngerer Musikerinnen und Musiker wie Colin Vallon, Lucien Dubois, Peter Mengis, Christoph Erb, Vera Kappeler, Jürg Wickihalder oder Christian Weber gelten als Geheimtipps.

Steigende Bedeutung der Compact Disc
Die steigende Anzahl der jährlich produzierten CDs belegt die erstaunliche musikalische Vielfalt der alpenländischen Jazzszene. Gemäß der Schweizerischen Landesphonothek in Lugano werden jährlich mehr als 200 CDs von Schweizer JazzmusikerInnen veröffentlicht. Jedes Jahr finden an die 100.000 CDs von Schweizer Jazzmusikern via einigen professionell vertriebenen Schweizer Jazzlabels wie HatHut Records, Intakt Records, Unit Records, TCB-Music, Altrisuoni, Brambus und mehreren Musikerselbsthilfe-Labels den Weg in gut sortierte Jazz-CD-Shops in Tokio, London, New York, Berlin oder Paris. Es ist paradox: Als CD-Verleger beobachte ich, wie CD-Läden eingehen, CD-Vertriebe schließen und CD-Labels mangels ausreichender Verkäufe finanziell in den Abgrund gleiten. Gleichzeitig ist die CD im Jazz wichtiger denn je. Die CD ist zur Visitenkarte des Musikers geworden. Ohne regelmäßig eine neue CD vorweisen zu können, ist der Künstler in der Fachpresse nicht präsent und seine Musik wird im Radio nicht gespielt. Ohne CD mit neuem Repertoire laden die Clubs und Festivals die Bands nicht ein. Neben der Dokumentation der Musik ist die CD zum wichtigsten Medium zur Promotion des Künstlers und seiner neuen Projekte geworden. Die Jazzwelt nimmt seit Jahren vorweg, was nun auch im Pop-Business Realität geworden ist.

Die hohe künstlerische Qualität des Jazz in der Schweiz fußt auf einer aktiven, stark dezentral ausgerichteten Szene. Typisch schweizerisch, könnte man sagen. Es sind oft die kleinen Konzerte in einer Beiz, in einem alternativen Kulturzentrum oder einer Bar, die die regelmäßigen Möglichkeiten zum Musizieren bringen. Damit die Musiker in Bestform aufspielen können, braucht es jenes komplexe Szenegeflecht und Zusammenwirken von Musikern, Publikum, Musikschulen, Musikerorganisationen, Clubs, Festivals, Labels, Vertrieben, Tonstudios, Medienleuten und Förderinstitutionen. Im Bereich der Ausbildung von Jazzmusikerinnen und -musikern hat sich in den letzten zehn Jahren eine Revolution ereignet. Sechs in die Fachhochschulen integrierte Jazzschulen und mehrere private Institutionen bilden Heerscharen von Musikexperten, Lehrern und Konzertmusikern aus. Vorsichtig geschätzt verlassen jährlich etwa 150 Hochschulabsolventen die Jazzschulen. Alle zehn Jahre ist die Schweiz um 1500 diplomierte Jazzer reicher.

Die hohe Ausbildung sowie die erstaunliche künstlerische Qualität des Musikschaffens der freien Szene stehen aber im Gegensatz zur öffentlichen Anerkennung. Die institutionelle Verankerung der Jazzszene, deren organisatorische Vertretung, aber auch deren finanzielle Unterstützung, ist – verglichen mit dem Theater, der Oper oder den Häusern der Bildenden Künste – sehr schwach. Die Jazzer haben eine individualistische, anarchistische Seite. Sie lassen sich kaum organisieren und haben deshalb nur eine schwache professionelle Lobby. Die Aktivitäten der Jazzmusiker finden mehrheitlich in unterbezahlten, meist alternativ gewachsenen Kleinstrukturen jenseits der öffentlich geförderten Kulturhäuser statt. Der Zürcher Bandleader und Saxophonist Omri Ziegele betont, dass die Honorare, die die Clubs in der Schweiz für Konzerte bezahlen, nichts anderes als Spesenentschädigungen sind. Er hält fest: „Die Musikerhonorare haben sich in den letzten 25 Jahren nicht bewegt. Honorarforderungen, die schon vor 25 Jahren von den MusikerInnen gestellt wurden, werden heute rundum unterlaufen.“

„Lässt sich denn davon leben?“ Nein! – Eigentlich nicht. Das Erstaunliche ist aber: Es gibt unzählige Musiker, Veranstalter, Verleger, die davon leben. Dies ist das Wunder des Jazzlandes Schweiz.

Überall ist Wunderland
Ökonomisch kalkulierend müsste ich den Sitz des Verlags von Zürich weg nach Berlin, New York oder Singapur verlegen. Nirgends ist das Herstellen von Compact Discs – der unheilvolle Mix von Kosten für Arbeit, Infrastruktur, Urheberrechte, Fabrikation – teurer als in der Schweiz. Im unvertrauten Raum wäre es mir jedoch unmöglich, einen spannenden Katalog zu machen. Ohne die Verankerung in einer lebendigen Szene könnte ich als Verleger nicht überleben. Die tägliche Diskussion mit Musikerinnen und Musikern, die Debatte mit Veranstaltern, der Streit mit Jazzkritikern und Förderinstitutionen ist mein tägliches Brot.

Ein Blick in den Back-Katalog von bald 150 CD-Veröffentlichungen zeigt, dass mehr als die Hälfte der Publikationen von Musikerinnen und Musikern stammen, die in der Schweiz leben. Mit einem Gang durch einige der neuesten Intakt-Veröffentlichungen möchte ich das breite Spektrum, den betörenden Wirrwarr an Stilen, diesen wundersamen Reichtum der Jazzproduktion in der Schweiz am Beispiel einer Handvoll Musikerinnen und Musiker vorführen. Dass die Liste unvollständig ist und einseitig die Sicht meiner Verlegertätigkeit spiegelt, muss hervorgehoben werden.

Irène Schweizer und Pierre Favre: die Pioniere
„Zwei Titanen an der Arbeit – und beide sind Schweizer“, schreibt die britische Zeitung The Guardian zur zweiten Duo-Veröffentlichung der in Zürich lebenden Pianistin Irène Schweizer und des Schlagzeugers Pierre Favre. Und der Jazzkritiker Peter Ruedi schwärmt: „Überall ist Wunderland. Große, gelassene, kluge Musik.“ Besser kann man es nicht sagen. Die Platte hält zwar ein Konzert mit freier Improvisation fest, aber was taugen die Begriffe bei der Beschreibung von Musik? Von solcher Musik! – Favre und Schweizer treten seit vierzig Jahren in losen Abständen im Duo zusammen auf, beiden gehören international zu den bekanntesten Jazzmusikern der Schweiz, und beide wurden mit dem Zürcher Kunstpreis geehrt. In ihrer Jugend haben sie traditionellen Jazz gespielt, den Drive und Swing des klassischen Jazz haben sie bewahrt, auch als sie sich in den späten 1960er-Jahren dem freien Spiel zuwandten. Pierre Favre entwickelte das klangorientierte Schlagzeugspiel, Irène Schweizer spielte im internationalen Frauentrio Les Diaboliques eine provokative, szenisch orientierte Improvisationsmusik. Die Musik dieser Pioniere des modernen Jazz blieb in Bewegung. Pierre Favre ist in den letzten Jahren vermehrt kompositorisch tätig, Irène Schwiezer hat im Solo-Spiel oder im Duo mit jüngeren Zürcher Saxophonistinnen und Saxophonisten (Omri Ziegele, Jürg Wickihalder, Co Streiff) zu den Wurzeln des Jazz und der afrikanischen Musik gefunden. Ein paar Mal im Jahr spielen die beiden im Duo zusammen, es kommt zu jenen seltenen Momenten, in denen sich die Zeit dehnt, die Erde schneller zu rotieren beginnt und zugleich stillsteht und alle Gesetze der Ästhetik aufgehoben sind.


• Schweizer-Favre, Ulrichsberg. Intakt CD 084

 


Koch-Schütz-Studer: Hardcore-Chambermusic
Hans Koch (Holzblasinstrumente, Elektronik), Martin Schütz (5-saitiges Cello, Elektronik) und Fredy Studer (Schlagzeug, Perkussion) haben im Trio schon mal die Welt umrundet, in den USA und Japan getourt und für ihre gemeinsamen improvisatorischen Entdeckungsreisen den Begriff der „Hardcore Chambermusic“ geprägt. Sie sind drei Forscher, Tüftler, Laboranten der Klänge und Rhythmen. Aus einer Konzertserie in einem für dreißig Abende eingerichteten Jazzclub in einer Zürcher Schlosserei sind ein Film von Peter Liechti und eine CD entstanden. Die CD ist ein hochprozentiges Destillat aus diesem Konzertmonat, ein tönender Energy-Drink, in dem rockige Sounds à la Hendrix oder polyrhythmische Muster, Labtop-Sounds und Free-Noise verschmelzen. Der Schriftsteller Reto Hänny besuchte die Konzerte und schreibt: „Das Laboratorium in der Schlosserei weitet sich zum strahlenden Klangdom, zum von keinem Radar zu lokalisierenden, durch die aufgewühlte See rollenden vibrierenden Frachter, alle Segel gesetzt für die Reise ins Unbekannte.“


• Koch-Schütz-Studer, Tales From 30 Unintentional Nights. Intakt CD 117


Sylvie Courvoisier: die Schweizerin in New York
Die heute vierzigjährige Pianistin und Komponistin Sylvie Courvoisier zog in den 1990er-Jahren von Lausanne nach New York und fand in der Down-Town-Jazzinnovation um den charismatischen Jazzexzentriker John Zorn Anschluss. Die klassisch ausgebildete Musikerin, eine Schülerin auch des Genfer Jazzpianisten Jacques Demierre, verbindet in ihren Veröffentlichungen neue E-Musik, Komposition, Elektronik und freie Improvisation. Eine Solo-CD sowie Duo-Aufnahmen mit ihrem Mann, dem Geiger Mark Feldmann, zeigen die pianistische Qualität der Künstlerin. Auf der CD Lonelyville mit einer Besetzung für Electric Chamber Musik und Neuere Musik hat die Musikerin ihren eigenen Sound gefunden. Wie alle großen Komponisten des aktuellen Jazz komponiert sie für die Temperamente ihrer Mitmusiker: den Geiger Mark Feldmann, den Cellisten Vincent Courtois, die Elektronikerin Ikue Mori und den Schlagzeuger Gerald Cleaver. „Courvoisiers Musik ist die organisierteste Form von Freiheit, die freiste Art von Organisation“, schreibt der Jazzkritiker Peter Rüedi. „Diese organisierte freie Musik des Quintetts hat eine eminent organische Qualität.“


• Sylvie Courvoisier, Lonelyville. Intakt CD 120


Billiger Bauer und Root Down: Die Blüten im Zürcher Biotop
Die Zürcher Werkstatt für Improvisierte Musik (WIM) ist eines der Zentren des neuen Jazz in Zürich. Die WIM besteht aus drei Räumen im ehemaligen Arbeiterviertel Kreis 4 und ist eine Schule ohne Wände und Diplome, ein Ort für Workshops, Unterricht, aber auch für Werkstattkonzerte, Kommunikation und langjährige Freundschaften. Künstlerisch steht die WIM in erster Linie für aktuelle, freie Improvisationsmusik, elektronische Sounds und neue Formen der Jazzkomposition. Zwei CDs mit zwei Großorchestern zeigen die Artenvielfalt des Zürcher Biotops.
Einmal im Monat trifft sich eine Schar Musikerinnen und Musiker in der WIM zum Konzert. Der Bandleader ist der Zürcher Saxophonist, Komponist und Sänger Omri Ziegele. Zum zehnjährigen Orchesterjubiläum hat Omri Ziegele Billiger Bauer acht Stücke zwischen freier Improvisation und Komposition und mit Texten der Poeten Dylan Thomas und Robert Creeley auf den Klangkörper geschrieben: Poesie mit Aufruhr. „Das Zürcher Oktett groovt, explodiert, swingt, streichelt, kitzelt, kratzt“, schreibt Marcus Maida im deutschen Jazzmagazin Jazzthetik. Der Berliner Journalist Christian Broecking beschreibt die Band so: „Billiger Bauer ist frei und strukturiert, Billiger Bauer ist ,Edges & Friends‘: randständige Musiker-Community der Nach-68er als Aufmerksamkeit für das jeweils Lokale im offenen Diskurs mit künstlerischer Disposition, Melancholie, Widerborstigkeit, Dynamik, freier Improvisation und Komposition, Imagination und Können.“
Die Zürcher Projekt-Bigband Root Down mit 15 Musikerinnen und Musikern aus dem Umfeld der WIM, initiiert von Saxophonist Tommy Meier, hat sich der Fokussierung auf die afrikanische Tradition sowie der Auslotung der eigenen europäischen Improvisation verschrieben. Stücke afrikanischer Musik von Fela Kuti oder Dudu Pukwana mischen sich mit Eigenkompositionen und Jazzimprovisationen. Da kommen traditionelle Bläsersätze, afrikanische Rhythmus-Sections und Scratch-Sounds junger DJs zum Einsatz. Die Besetzung reicht von der Saxophonistin Co Streiff über den Trompeter Peter Schärli, die Pianistin Irène Schweizer bis zur Turntable-Spielerin Trixa Arnold. „Ein fantastisches Tohuwabohu an Klängen, Motiven und Big-Band-Versatzstücken wird jenseits von Swing und Jazz zum finalen Break getrieben“, schreibt die Schweizer Jazzzeitung Jazz’n’More. Sogar die Legende des Jazzjournalismus, die Jazzzeitschrift Downbeat, staunte übers Geschehen in der Schweiz, wo eigentlich eine solche „Hochschätzung afrikanischer Musik kaum zu erwarten wäre“, und schwärmt: „The band is terrific.“

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• Omri Ziegele Billiger Bauer, Edges & Friends. Intakt CD 112
• Tommy Meier, Root Down. Intakt CD 135


Hans Hassler: Der Freigeist mit Herz und Bart
Hans Hassler ist der Schweizer König auf dem Akkordeon. Seit über dreißig Jahren befindet sich der 1945 in Graubünden geborene Musiker auf Wanderung durch die verschiedensten Szenen: Schweizer Volksmusik, Jazz, Filmmusik, freie Improvisation oder klassische Interpretationen. Seine Erscheinung, sein Schalk, seine Virtuosität und sein unerhörtes Spektrum von Ländler bis Jazz machen seine Performances zum Erlebnis. Er ist stilistisch nicht fassbar und doch kantig seinem Weg verpflichtet. Nicht nur Stücktitel wie „Akkordplosion“, sondern auch sein verspielter, abgründiger Humor situieren ihn neben Künstler-Originalen wie Roman Signer oder Endo Anaconda. Mit der CD Sehr Schnee, sehr Wald, sehr präsentiert Hans Hassler die erste Aufnahme seiner Akkordeon-Solo-Kunst. Der Freigeist mit Herz und Bart gibt im Alter von 63 Jahren Einblick in seinen musikalischen Kosmos.


• Hans Hassler, Sehr Schnee - sehr Wald, sehr. Intakt CD 147


Lucas Niggli: Feier der Vielfalt
Lucas Niggli ist der Star des jungen Jazz in der Schweiz. 1968 geboren, gehört der Schlagzeuger und Komponist zu jener Generation, die mit Jazztradition wie Jazzavantgarde und in der Welt der Popmusik aufgewachsen sind. Er ist ein Repräsentant der Jazz-Postmoderne. Instrumentaltechnisch versiert, breit gebildet, mit Energie und Temperament beschenkt, trommelt er rockige Grooves mit der Band Steamboat Switzerland oder begleitet sensibel die Sängerinnen Erika Stucky und Susanne Abbuehl. Niggli hat eine eigene kompositorische Handschrift entwickelt, die er mit seiner Band ZOOM präsentiert. Eine seiner neuen Platten trägt den Titel Celebrate Diversity, ein Motto, das für seine ganze Arbeit, aber auch fürs aktuelle Jazzgeschehen passt. Hier kommt seine Neigung zu kammerjazziger Transparenz und Intimität zum Zug. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobt: „Wie vielseitig und effektiv diese fünf Stimmen miteinander umgehen, zeigt exemplarisch ein Stück wie ,Schluss‘. Gitarre und Posaune stapfen vorsichtig wie ein Storch durchs nasse Gras, und aus ihren sanft gesetzten Tönen entwickelt sich eine beschwörende Klarinettenmelodie, die schließlich zu einem Ende kommt. Mit zitterndem Blech und sanft angeschlagenen Becken antwortet Lucas Niggli auf diese Melodie, und obwohl der Schlagzeuger in diesem Teil des Stücks schon längst mit sich allein ist, scheinen die Töne der Bläser und Saiteninstrumente noch immer in der Luft zu liegen. Und Schluss.“


• Lucas Niggli, Big Zoom. Celebrate Diversity. Intakt CD 118

 

 

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