Kulturzeitschrift
DU, Juni 2008
Jazzwunderland Schweiz
Text von Patrik Landolt
„Lässt sich denn davon leben?“, fragte mich ein befreundeter
Journalist, als ich vor einigen Jahren meinen Beruf vom Redakteur zum Verleger
wechselte. Ich hatte während zwanzig Jahren zuerst in meiner Freizeit,
später dann mit einem kleinen Teilzeitpensum den Jazzverlag Intakt Records
aufgebaut und hundert CDs produziert. Nicht ohne Erfolg: Gerade war die CD-Box
Monks Casino – eine umfassende Sammlung der Kompositionen von Thelonious
Monk, gespielt von der Berliner Band Die Enttäuschung und dem Jazzpionier
Alexander von Schlippenbach – mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik
ausgezeichnet worden. Gerade hatte die wichtigste amerikanische Jazzzeitung,
die im Jazz-Apple New York angesiedelte Monatszeitung All About Jazz New York
unseren kleinen Schweizer Verlag zum CD-Label des Jahres gewählt mit dem
charmanten Lob: „Kleines Budget, aber immense Qualität“. Der
Erfolg hatte einen Anfall an Arbeit zur Folge. Der Verlag ließ sich nicht
mehr nebenbei führen. Obwohl die sich verschärfende ökonomische
Krise des CD-Marktes wie das Fallbeil einer Guillotine über dem CD-Business
schwebte, kam mir die Frage meines Journalistenkollegen doch antiquiert schweizerisch
vor. Immerhin sind einige traditionelle Leuchttürme des Schweizer Sicherheitsbedürfnisses,
etwa die Großbanken oder die Schweizer Armee, ins Wanken geraten.
Vielleicht ärgerte mich diese Frage auch, weil die Frage nach der ökonomischen
Existenz die entscheidende Frage ist, der sich jeder Verleger, aber auch die
Musiker, stellt. Und: die jeder Kulturschaffende gleichzeitig umschiffen, umgehen,
verdrängen muss. Die Akteure der Jazzwelt sind Meister der Verdrängung
des Ökonomischen. Wie, wenn nicht mit einer geradezu halsstarrigen Versessenheit
aufs Künstlerische, die das Wirtschaftliche in den Hintergrund stellt,
hätte in den 1960er-Jahren eine junge Frau wie Irène Schweizer beschließen
können, Jazzpianistin zu werden: Freejazz-Pianistin! Irène Schweizer
lebt nun seit gut dreißig Jahren als Konzertpianistin. Die meisten ihrer
klugen Musikerkollegen spielten Jazz nach der normalen Erwerbsarbeit. Der Ort
der Radikalität lag in der Freizeit. Einige machten, nebenbei Saxophon
blasend, Karriere als Arzt oder Lehrer. Einer, der als Student leidenschaftlich
Jazztrompete spielte, wurde sogar Bundesrat. „Lässt sich denn davon
leben?“, war also die rhetorische Frage, die auf die ökonomische
Schwäche und somit auf die Exotik einer ganzen Musikszene hinweist. Wie
kann jemand Verleger von Jazzmusik werden in einer Zeit, da die Zukunft der
CD ungesichert ist? Oder wie kann jemand Jazzmusiker werden, wo doch der Mainstream
das Showbusiness beherrscht?
Oh, Europa!
Es ist die Faszination für die Kunstform Jazz und der Einblick in den wundersamen
künstlerischen Reichtum der aktuellen Jazzentwicklung, die mir die Vermittlungsarbeit
als Verleger täglich aufregend erscheinen und mich den ökonomischen
Wahnsinn dieser Tätigkeit leicht verdrängen lassen. Die Innovation
im Jazz hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten von Amerika, der Wiege des
Jazz, nach Europa verlegt. Städte wie Berlin oder Zürich sind Zentren
aktueller Jazzkreation geworden. Wer heute die Jazzszene Europas betrachtet,
ist weit entfernt vom Seufzer der politischen Philosophie „Ach, Europa“.
In Europa erlebt heute der Jazz eine bislang unbekannte Blüte. Noch nie
wurde so viel Jazz gespielt, noch nie gab es so viele Jazzmusikerinnen und -musiker,
Veranstaltungsorte und Jazzlabels. Der Effekt ist aber auch eine große
Unübersichtlichkeit. Oh, Europa!
Die Jazzkritikerlegende Wilhelm Liefland beschrieb die Entwicklung zur Unübersichtlichkeit
schon zu Beginn der 1970er-Jahre als den größten „qualitativen
Bruch in der Geschichte des Jazz“. Konnte der Jazz in den 1950er- und
1960er-Jahren noch Stars wie Charlie Parker, Thelonious Monk, Miles Davis oder
John Coltrane präsentieren, die eine überschaubare Jazzentwicklung
repräsentierten, verunmöglicht eine vielfältig gewordene Jazzwelt
solche Trendpräsentationen. Neue Entwicklungen und interessante Innovationen
finden, vom Publikum und den großen Medien und Festivals unbemerkt, oft
an den Rändern statt. Die Jazzszene ist in eine Vielzahl sich vermischender
Stile und im Sinne einer Zellteilung voneinander abgespaltener Szenen ausdifferenziert.
Die Zahl der jährlich erscheinenden Jazz-CDs ist trotz der vom Musikgeschäft
beklagten Verkaufsrückgänge gigantisch. Die internationale Jazzwelt
präsentiert heute über Hunderte von MusikerInnen-Persönlichkeiten
unterschiedlichster Spielweisen und Stile. Hingegen fehlen zugkräftige
Einzelfiguren, die die großen Festivalsäle füllen könnten
oder CDs in hohen Auflagen verkaufen. Dies sind Phänomene, die nicht nur
einen Teil des Publikums, sondern auch Festivalmacher und Medienleute verunsichern
und überfordern.
Der deutsche Jazzkritiker Bert Noglik schreibt dieser Entwicklung auch positive
Seiten zu: „Die viel zitierte neue Unübersichtlichkeit ist einerseits
Ausdruck des Auseinanderfallens, andererseits aber auch Spiegel von Demokratisierungsprozessen“,
begünstigt durch neue kulturelle Bedürfnisse und neue Produktionsbedingungen
im Jazz. Der Wirrwarr von Stilen und Musikentwicklungen sowie die dezentrale
Vielfalt von kleineren Festivals, Clubs und Labels sind Ausdruck einer lebendigen
und kreativen Jazzwelt.
Originalität auf engstem Raum
Die Schweizer Jazzwelt ist dafür ein gutes Beispiel: Gerade das Jazzgeschehen
zwischen Genf und Zürich, Chur und Luzern findet in zahlreichen Parallelwelten
statt. In einer Vielfalt von Szenen, die zueinander lose Kontakte pflegen, sich
sowohl austauschen wie auch abgrenzen, bewegen sich mehrere Hundert aktive Musikerinnen
und Musiker.
„Jazz-Wunderland Schweiz“ titelte der Jazzkritiker Hansjürgen
von Osterhausen einen Bericht über das Schweizer Jazzfestival Schaffhausen
im deutschen Jazzmagazin Jazzpodium. „Die Schweiz hat eine der vielfältigsten
Szenen Europas“, betont der deutsche Jazzpublizist Bert Noglik, ein ausgewiesener
Kenner des internationalen Jazzgeschehens: „Eine immense Ansammlung von
Originalität auf engstem Raum.“ Schweizer Jazzmusiker stehen seit
mehreren Jahren regelmäßig auf den Bühnen internationaler Festivals
und Clubs. Es sind Musiker aus allen Sparten des Jazz – Avantgarde oder
traditionellem Jazz –, die es in der Welt des Jazz zur Reputation gebracht
haben. Persönlichkeiten wie Pierre Favre, Irène Schweizer, George
Gruntz, Hans Hassler, Urs Leimgruber, Christy Doran, Koch-Schütz-Studer,
Susanne Abbuehl, Co Streiff, Erika Stucky, Sylvie Courvoisier, Harald Haerter,
Charlotte Hug, Jacques Demierre, Fritz Hauser, Jojo Mayer, Norbert Möslang,
Malcom Brath, Daniel Schnyder, Matthias Ziegler oder Thierry Lang, um nur ein
paar Namen zu nennen, sind an den wichtigsten Jazzfestivals der Welt oft gesehene
Gäste. Die Pianistin Irène Schweizer hatte letztes Jahr eine erfolgreiche
Konzerttournee in den USA und ist erneut für drei Auftritte in unterschiedlichen
Besetzungen ans Columbia/Harlem Festival of Global Jazz nach New York eingeladen.
Wer denkt, dass die Szene überaltert ist, irrt – auch Musiker der
jüngeren Generation erspielen sich international einen Ruf: Der Pianist
Nik Bärtsch tourt mit seiner Band Ritual Groove Music mit Erfolg um die
Welt. Der Schlagzeuger Lucas Niggli ist nicht nur an den bedeutenden europäischen
Festivals wie Moers und Saalfelden zu hören, sondern auch für mehrere
Touren wochenlang in Europa unterwegs. Die Namen jüngerer Musikerinnen
und Musiker wie Colin Vallon, Lucien Dubois, Peter Mengis, Christoph Erb, Vera
Kappeler, Jürg Wickihalder oder Christian Weber gelten als Geheimtipps.
Steigende Bedeutung der Compact Disc
Die steigende Anzahl der jährlich produzierten CDs belegt die erstaunliche
musikalische Vielfalt der alpenländischen Jazzszene. Gemäß der
Schweizerischen Landesphonothek in Lugano werden jährlich mehr als 200
CDs von Schweizer JazzmusikerInnen veröffentlicht. Jedes Jahr finden an
die 100.000 CDs von Schweizer Jazzmusikern via einigen professionell vertriebenen
Schweizer Jazzlabels wie HatHut Records, Intakt Records, Unit Records, TCB-Music,
Altrisuoni, Brambus und mehreren Musikerselbsthilfe-Labels den Weg in gut sortierte
Jazz-CD-Shops in Tokio, London, New York, Berlin oder Paris. Es ist paradox:
Als CD-Verleger beobachte ich, wie CD-Läden eingehen, CD-Vertriebe schließen
und CD-Labels mangels ausreichender Verkäufe finanziell in den Abgrund
gleiten. Gleichzeitig ist die CD im Jazz wichtiger denn je. Die CD ist zur Visitenkarte
des Musikers geworden. Ohne regelmäßig eine neue CD vorweisen zu
können, ist der Künstler in der Fachpresse nicht präsent und
seine Musik wird im Radio nicht gespielt. Ohne CD mit neuem Repertoire laden
die Clubs und Festivals die Bands nicht ein. Neben der Dokumentation der Musik
ist die CD zum wichtigsten Medium zur Promotion des Künstlers und seiner
neuen Projekte geworden. Die Jazzwelt nimmt seit Jahren vorweg, was nun auch
im Pop-Business Realität geworden ist.
Die hohe künstlerische Qualität des Jazz in der Schweiz fußt
auf einer aktiven, stark dezentral ausgerichteten Szene. Typisch schweizerisch,
könnte man sagen. Es sind oft die kleinen Konzerte in einer Beiz, in einem
alternativen Kulturzentrum oder einer Bar, die die regelmäßigen Möglichkeiten
zum Musizieren bringen. Damit die Musiker in Bestform aufspielen können,
braucht es jenes komplexe Szenegeflecht und Zusammenwirken von Musikern, Publikum,
Musikschulen, Musikerorganisationen, Clubs, Festivals, Labels, Vertrieben, Tonstudios,
Medienleuten und Förderinstitutionen. Im Bereich der Ausbildung von Jazzmusikerinnen
und -musikern hat sich in den letzten zehn Jahren eine Revolution ereignet.
Sechs in die Fachhochschulen integrierte Jazzschulen und mehrere private Institutionen
bilden Heerscharen von Musikexperten, Lehrern und Konzertmusikern aus. Vorsichtig
geschätzt verlassen jährlich etwa 150 Hochschulabsolventen die Jazzschulen.
Alle zehn Jahre ist die Schweiz um 1500 diplomierte Jazzer reicher.
Die hohe Ausbildung sowie die erstaunliche künstlerische Qualität
des Musikschaffens der freien Szene stehen aber im Gegensatz zur öffentlichen
Anerkennung. Die institutionelle Verankerung der Jazzszene, deren organisatorische
Vertretung, aber auch deren finanzielle Unterstützung, ist – verglichen
mit dem Theater, der Oper oder den Häusern der Bildenden Künste –
sehr schwach. Die Jazzer haben eine individualistische, anarchistische Seite.
Sie lassen sich kaum organisieren und haben deshalb nur eine schwache professionelle
Lobby. Die Aktivitäten der Jazzmusiker finden mehrheitlich in unterbezahlten,
meist alternativ gewachsenen Kleinstrukturen jenseits der öffentlich geförderten
Kulturhäuser statt. Der Zürcher Bandleader und Saxophonist Omri Ziegele
betont, dass die Honorare, die die Clubs in der Schweiz für Konzerte bezahlen,
nichts anderes als Spesenentschädigungen sind. Er hält fest: „Die
Musikerhonorare haben sich in den letzten 25 Jahren nicht bewegt. Honorarforderungen,
die schon vor 25 Jahren von den MusikerInnen gestellt wurden, werden heute rundum
unterlaufen.“
„Lässt sich denn davon leben?“ Nein! – Eigentlich nicht.
Das Erstaunliche ist aber: Es gibt unzählige Musiker, Veranstalter, Verleger,
die davon leben. Dies ist das Wunder des Jazzlandes Schweiz.
Überall ist Wunderland
Ökonomisch kalkulierend müsste ich den Sitz des Verlags von Zürich
weg nach Berlin, New York oder Singapur verlegen. Nirgends ist das Herstellen
von Compact Discs – der unheilvolle Mix von Kosten für Arbeit, Infrastruktur,
Urheberrechte, Fabrikation – teurer als in der Schweiz. Im unvertrauten
Raum wäre es mir jedoch unmöglich, einen spannenden Katalog zu machen.
Ohne die Verankerung in einer lebendigen Szene könnte ich als Verleger
nicht überleben. Die tägliche Diskussion mit Musikerinnen und Musikern,
die Debatte mit Veranstaltern, der Streit mit Jazzkritikern und Förderinstitutionen
ist mein tägliches Brot.
Ein Blick in den Back-Katalog von bald 150 CD-Veröffentlichungen zeigt,
dass mehr als die Hälfte der Publikationen von Musikerinnen und Musikern
stammen, die in der Schweiz leben. Mit einem Gang durch einige der neuesten
Intakt-Veröffentlichungen möchte ich das breite Spektrum, den betörenden
Wirrwarr an Stilen, diesen wundersamen Reichtum der Jazzproduktion in der Schweiz
am Beispiel einer Handvoll Musikerinnen und Musiker vorführen. Dass die
Liste unvollständig ist und einseitig die Sicht meiner Verlegertätigkeit
spiegelt, muss hervorgehoben werden.
Irène Schweizer und Pierre Favre: die Pioniere
„Zwei Titanen an der Arbeit – und beide sind Schweizer“, schreibt
die britische Zeitung The Guardian zur zweiten Duo-Veröffentlichung der
in Zürich lebenden Pianistin Irène Schweizer und des Schlagzeugers
Pierre Favre. Und der Jazzkritiker Peter Ruedi schwärmt: „Überall
ist Wunderland. Große, gelassene, kluge Musik.“ Besser kann man
es nicht sagen. Die Platte hält zwar ein Konzert mit freier Improvisation
fest, aber was taugen die Begriffe bei der Beschreibung von Musik? Von solcher
Musik! – Favre und Schweizer treten seit vierzig Jahren in losen Abständen
im Duo zusammen auf, beiden gehören international zu den bekanntesten Jazzmusikern
der Schweiz, und beide wurden mit dem Zürcher Kunstpreis geehrt. In ihrer
Jugend haben sie traditionellen Jazz gespielt, den Drive und Swing des klassischen
Jazz haben sie bewahrt, auch als sie sich in den späten 1960er-Jahren dem
freien Spiel zuwandten. Pierre Favre entwickelte das klangorientierte Schlagzeugspiel,
Irène Schweizer spielte im internationalen Frauentrio Les Diaboliques
eine provokative, szenisch orientierte Improvisationsmusik. Die Musik dieser
Pioniere des modernen Jazz blieb in Bewegung. Pierre Favre ist in den letzten
Jahren vermehrt kompositorisch tätig, Irène Schwiezer hat im Solo-Spiel
oder im Duo mit jüngeren Zürcher Saxophonistinnen und Saxophonisten
(Omri Ziegele, Jürg Wickihalder, Co Streiff) zu den Wurzeln des Jazz und
der afrikanischen Musik gefunden. Ein paar Mal im Jahr spielen die beiden im
Duo zusammen, es kommt zu jenen seltenen Momenten, in denen sich die Zeit dehnt,
die Erde schneller zu rotieren beginnt und zugleich stillsteht und alle Gesetze
der Ästhetik aufgehoben sind.
• Schweizer-Favre, Ulrichsberg.
Intakt CD 084
Koch-Schütz-Studer: Hardcore-Chambermusic
Hans Koch (Holzblasinstrumente, Elektronik), Martin Schütz (5-saitiges
Cello, Elektronik) und Fredy Studer (Schlagzeug, Perkussion) haben im Trio schon
mal die Welt umrundet, in den USA und Japan getourt und für ihre gemeinsamen
improvisatorischen Entdeckungsreisen den Begriff der „Hardcore Chambermusic“
geprägt. Sie sind drei Forscher, Tüftler, Laboranten der Klänge
und Rhythmen. Aus einer Konzertserie in einem für dreißig Abende
eingerichteten Jazzclub in einer Zürcher Schlosserei sind ein Film von
Peter Liechti und eine CD entstanden. Die CD ist ein hochprozentiges Destillat
aus diesem Konzertmonat, ein tönender Energy-Drink, in dem rockige Sounds
à la Hendrix oder polyrhythmische Muster, Labtop-Sounds und Free-Noise
verschmelzen. Der Schriftsteller Reto Hänny besuchte die Konzerte und schreibt:
„Das Laboratorium in der Schlosserei weitet sich zum strahlenden Klangdom,
zum von keinem Radar zu lokalisierenden, durch die aufgewühlte See rollenden
vibrierenden Frachter, alle Segel gesetzt für die Reise ins Unbekannte.“
• Koch-Schütz-Studer, Tales From 30 Unintentional Nights. Intakt
CD 117
Sylvie Courvoisier: die Schweizerin in New York
Die heute vierzigjährige Pianistin und Komponistin Sylvie Courvoisier zog
in den 1990er-Jahren von Lausanne nach New York und fand in der Down-Town-Jazzinnovation
um den charismatischen Jazzexzentriker John Zorn Anschluss. Die klassisch ausgebildete
Musikerin, eine Schülerin auch des Genfer Jazzpianisten Jacques Demierre,
verbindet in ihren Veröffentlichungen neue E-Musik, Komposition, Elektronik
und freie Improvisation. Eine Solo-CD sowie Duo-Aufnahmen mit ihrem Mann, dem
Geiger Mark Feldmann, zeigen die pianistische Qualität der Künstlerin.
Auf der CD Lonelyville mit einer Besetzung für Electric Chamber Musik und
Neuere Musik hat die Musikerin ihren eigenen Sound gefunden. Wie alle großen
Komponisten des aktuellen Jazz komponiert sie für die Temperamente ihrer
Mitmusiker: den Geiger Mark Feldmann, den Cellisten Vincent Courtois, die Elektronikerin
Ikue Mori und den Schlagzeuger Gerald Cleaver. „Courvoisiers Musik ist
die organisierteste Form von Freiheit, die freiste Art von Organisation“,
schreibt der Jazzkritiker Peter Rüedi. „Diese organisierte freie
Musik des Quintetts hat eine eminent organische Qualität.“
• Sylvie Courvoisier, Lonelyville.
Intakt CD 120
Billiger Bauer und Root Down: Die Blüten im Zürcher Biotop
Die Zürcher Werkstatt für Improvisierte Musik (WIM) ist eines der
Zentren des neuen Jazz in Zürich. Die WIM besteht aus drei Räumen
im ehemaligen Arbeiterviertel Kreis 4 und ist eine Schule ohne Wände und
Diplome, ein Ort für Workshops, Unterricht, aber auch für Werkstattkonzerte,
Kommunikation und langjährige Freundschaften. Künstlerisch steht die
WIM in erster Linie für aktuelle, freie Improvisationsmusik, elektronische
Sounds und neue Formen der Jazzkomposition. Zwei CDs mit zwei Großorchestern
zeigen die Artenvielfalt des Zürcher Biotops.
Einmal im Monat trifft sich eine Schar Musikerinnen und Musiker in der WIM zum
Konzert. Der Bandleader ist der Zürcher Saxophonist, Komponist und Sänger
Omri Ziegele. Zum zehnjährigen Orchesterjubiläum hat Omri Ziegele
Billiger Bauer acht Stücke zwischen freier Improvisation und Komposition
und mit Texten der Poeten Dylan Thomas und Robert Creeley auf den Klangkörper
geschrieben: Poesie mit Aufruhr. „Das Zürcher Oktett groovt, explodiert,
swingt, streichelt, kitzelt, kratzt“, schreibt Marcus Maida im deutschen
Jazzmagazin Jazzthetik. Der Berliner Journalist Christian Broecking beschreibt
die Band so: „Billiger Bauer ist frei und strukturiert, Billiger Bauer
ist ,Edges & Friends‘: randständige Musiker-Community der Nach-68er
als Aufmerksamkeit für das jeweils Lokale im offenen Diskurs mit künstlerischer
Disposition, Melancholie, Widerborstigkeit, Dynamik, freier Improvisation und
Komposition, Imagination und Können.“
Die Zürcher Projekt-Bigband Root Down mit 15 Musikerinnen und Musikern
aus dem Umfeld der WIM, initiiert von Saxophonist Tommy Meier, hat sich der
Fokussierung auf die afrikanische Tradition sowie der Auslotung der eigenen
europäischen Improvisation verschrieben. Stücke afrikanischer Musik
von Fela Kuti oder Dudu Pukwana mischen sich mit Eigenkompositionen und Jazzimprovisationen.
Da kommen traditionelle Bläsersätze, afrikanische Rhythmus-Sections
und Scratch-Sounds junger DJs zum Einsatz. Die Besetzung reicht von der Saxophonistin
Co Streiff über den Trompeter Peter Schärli, die Pianistin Irène
Schweizer bis zur Turntable-Spielerin Trixa Arnold. „Ein fantastisches
Tohuwabohu an Klängen, Motiven und Big-Band-Versatzstücken wird jenseits
von Swing und Jazz zum finalen Break getrieben“, schreibt die Schweizer
Jazzzeitung Jazz’n’More. Sogar die Legende des Jazzjournalismus,
die Jazzzeitschrift Downbeat, staunte übers Geschehen in der Schweiz, wo
eigentlich eine solche „Hochschätzung afrikanischer Musik kaum zu
erwarten wäre“, und schwärmt: „The band is terrific.“
...
• Omri Ziegele Billiger Bauer, Edges & Friends. Intakt
CD 112
• Tommy Meier, Root Down. Intakt
CD 135
Hans Hassler: Der Freigeist mit Herz und Bart
Hans Hassler ist der Schweizer König auf dem Akkordeon. Seit über
dreißig Jahren befindet sich der 1945 in Graubünden geborene Musiker
auf Wanderung durch die verschiedensten Szenen: Schweizer Volksmusik, Jazz,
Filmmusik, freie Improvisation oder klassische Interpretationen. Seine Erscheinung,
sein Schalk, seine Virtuosität und sein unerhörtes Spektrum von Ländler
bis Jazz machen seine Performances zum Erlebnis. Er ist stilistisch nicht fassbar
und doch kantig seinem Weg verpflichtet. Nicht nur Stücktitel wie „Akkordplosion“,
sondern auch sein verspielter, abgründiger Humor situieren ihn neben Künstler-Originalen
wie Roman Signer oder Endo Anaconda. Mit der CD Sehr Schnee, sehr Wald, sehr
präsentiert Hans Hassler die erste Aufnahme seiner Akkordeon-Solo-Kunst.
Der Freigeist mit Herz und Bart gibt im Alter von 63 Jahren Einblick in seinen
musikalischen Kosmos.
• Hans Hassler, Sehr Schnee - sehr Wald, sehr. Intakt
CD 147
Lucas Niggli: Feier der Vielfalt
Lucas Niggli ist der Star des jungen Jazz in der Schweiz. 1968 geboren, gehört
der Schlagzeuger und Komponist zu jener Generation, die mit Jazztradition wie
Jazzavantgarde und in der Welt der Popmusik aufgewachsen sind. Er ist ein Repräsentant
der Jazz-Postmoderne. Instrumentaltechnisch versiert, breit gebildet, mit Energie
und Temperament beschenkt, trommelt er rockige Grooves mit der Band Steamboat
Switzerland oder begleitet sensibel die Sängerinnen Erika Stucky und Susanne
Abbuehl. Niggli hat eine eigene kompositorische Handschrift entwickelt, die
er mit seiner Band ZOOM präsentiert. Eine seiner neuen Platten trägt
den Titel Celebrate Diversity, ein Motto, das für seine ganze Arbeit, aber
auch fürs aktuelle Jazzgeschehen passt. Hier kommt seine Neigung zu kammerjazziger
Transparenz und Intimität zum Zug. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobt:
„Wie vielseitig und effektiv diese fünf Stimmen miteinander umgehen,
zeigt exemplarisch ein Stück wie ,Schluss‘. Gitarre und Posaune stapfen
vorsichtig wie ein Storch durchs nasse Gras, und aus ihren sanft gesetzten Tönen
entwickelt sich eine beschwörende Klarinettenmelodie, die schließlich
zu einem Ende kommt. Mit zitterndem Blech und sanft angeschlagenen Becken antwortet
Lucas Niggli auf diese Melodie, und obwohl der Schlagzeuger in diesem Teil des
Stücks schon längst mit sich allein ist, scheinen die Töne der
Bläser und Saiteninstrumente noch immer in der Luft zu liegen. Und Schluss.“
• Lucas Niggli, Big Zoom. Celebrate Diversity.
Intakt CD 118