MONK'S CASINO

ALEXANDER VON SCHLIPPENBACH


PIANO SOLO • TWELVE TONE TALES • VOL 1
PIANO SOLO • TWELVE TONE TALES • VOL 2

Liner Notes by Bert Noglik
(eng / dt)


Drei Tage im Juni
Wie holt man die Ernte eines Lebenswerkes ein in drei Tagen? In der musikalischen Improvisation, die als «work in progress», letztlich als jahrzehntelange Kongruenz von Vita und Werk angelegt ist, scheint solches unmöglich. Und doch gibt es Momentaufnahmen oder Dokumente von Arbeitsphasen, die exemplarisch erscheinen und im Ausschnitt auf das Ganze verweisen. Gewiss, Alexander von Schlippenbachs Klavierspiel ist immer im Kontext seiner anderen Aktivitäten wahrzunehmen – im Zusammenhang mit dem Globe Unity Orchestra, dem Trio mit Evan Parker und Paul Lovens, dem Duo mit Aki Takase oder dem mit Sven-Åke Johansson. Schließlich impliziert auch die mit der Berliner Band Die Enttäuschung aus zeitgenössischer Sicht unternommene Annäherung an Thelonious Monk wesentliche Facetten des Pianisten Alexander von Schlippenbach.

Gelang es, das Monk-Projekt auf drei CDs zu dokumentieren (Monk’s Casino, Intakt), so erwies sich eine neue Soloeinspielung als weitaus problematischer. Große Mengen an musikalischem Material hatten sich im Laufe der Jahre angesammelt, waren in extensiven Prozessen des Musizierens er-spielt, ausgebreitet und akkumuliert worden. Noch wichtiger als der quantitative wog der qualitative Aspekt: die gestaltbildende Konzentration, die intellektuelle und emotionale Verknüpfung des Materials sollten sich gegen das Zufällige stellen und dennoch nicht des Spontanen entbehren.

Alexander von Schlippenbach entschied sich für einen strengen formalen Aufbau in Gestalt einer vierteiligen Gliederung. Die jedem dieser Stück-Gruppen vorangestellten Twelve Tone Tales beginnen jeweils mit einer Invention, geschrieben unter den Vorzeichen des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen. Auch die improvisatorischen Fortsetzungen in der Paraphrase und gegebenenfalls die zweite Invention beziehen sich auf die gleiche Zwölftonreihe.

Auf der Ebene des Konzeptionellen wie auch des Technischen erweist sich zunächst einmal als hocherstaunlich, wie es dem Pianisten gelungen ist, Konstruktionsprinzipien der Neuen Musik in den Fluss der Improvisation einzubeziehen, die Struktur in einen Prozess zu verwandeln. Schon Anfang der achtziger Jahre hat er es in einem Interview mit mir so beschrieben: «Beim Üben bilde ich manchmal eine Kette von Zusammenklängen, die von der Zweistimmigkeit über die Dreistimmigkeit – zum Beispiel zwei Finger der linken, ein Finger der rechten Hand – bis hin zu zehnstimmigen Akkorden reicht. Wenn man völlig ungestört arbeiten kann, gelingt es einem, diese Zusammenklänge in einen fortlaufenden Zusammenhang zu bringen, eine Kette von in sich logischen Gliedern aufzubauen. Je mehr Töne zusammenkommen, desto komplizierter wird es natürlich.» Im Fortgang jahrelangen, jahrzehntelangen Übens/Spielens hat Alexander von Schlippenbach die Fähigkeit entwickelt, mit linker und rechter Hand eine Folge von sechstönigen Akkorden im Sinne einer Zwölftonreihe zu entfalten. Solches Material steht ihm mittlerweile – vergleichbar dem sehr viel simpler strukturierten Umgang mit Changes – abrufbereit zur Verfügung, ist bis in die Motorik hinein gespeichert und kann mit höchster geistig-kreativer Konzentration im Spielprozess neu konfiguriert werden.

Wesentlicher als die durchaus spannenden Aspekte des Klaviertechnischen erweisen sich die musikphilosophischen Bezüge zur Neuen Musik, konkret der zur Zweiten Wiener Schule und persönlich der zum Komponisten Bernd Alois Zimmermann, der für Alexander von Schlippenbach zum entscheidenden Vermittler der Moderne und durch dessen eigenes Schaffen zum Inspirator wurde. Die Fakten sind bekannt: Von Schlippenbach hatte Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre u. a. bei Bernd Alois Zimmermann studiert und – als Mitglied des Manfred Schoof Quintetts – bei der Aufführung von Werken Zimmermanns (bei der Oper «Die Soldaten» und bei Hörspielmusiken) mitgewirkt. Umgekehrt ließ sich der Jazzpianist von Zimmermann dazu anregen, Aspekte der Neuen Musik in die Arbeit mit seinen damaligen Jazzgruppen zu integrieren und schließlich 1966 mit dem Globe Unity Orchestra einen neuen Weg des von konventionellen Bindungen befreiten orches-
tralen Jazz zu manifestieren. Über seine Stimmung in der damaligen Zeit schrieb der Pianist: «Der im Schönberg’schen Sinne unzulässige Terminus ‹Atonalität› war das Zauberwort. Ein wahres Pandämonium neuer Klänge, Formen und Rhythmen hatte sich aufgetan und bot denen, die zufassten und das Glück hatten, Gleichgesinnte zu finden, eine Fülle schöpferischer Möglichkeiten.»

Alexander von Schlippenbach vermag Vorstellungen der Neuen Musik zu assimilieren und dabei auch in gänzlich veränderten Klanglandschaften dem Impetus des Jazz treu zu bleiben. Bernd Alois Zimmermanns Vision von der «Kugelgestalt der Zeit» und einem pluralistisch angelegten Komponieren, das in gewisser Weise die Freiheiten der postseriellen Musik und der durch die Fegefeuer des Free Jazz gegangenen Improvisatoren vorwegnahm, erlaubte einen undogmatischen Umgang mit Prinzipien und Traditionen, was freilich keinen Freibrief für Bedenkenlosigkeit und Nachlässigkeit bedeutet. Mit den Twelve Tone Tales kommt Alexander von Schlippenbach im Stadium der Reife, einen großen Bogen vollendend, zu seinen Ursprüngen im Jazz und zu seinen Initialerlebnissen auf dem Gebiet der Neuen Musik zurück, indem er seinem frühen Mentor Bernd Alois Zimmermann eine Hommage erweist, ohne den großen Monk (und dieser steht hier sinnbildlich für das dem Jazz inhärente Streben nach Innovation) zu vernachlässigen. Die Twelve Tone Tales bedürfen der Konzentration im Einzelnen und auf das Einzelne, aber sie erschließen sich in ihrer Tiefendimension erst im Zusammenhang – innerhalb der Vierergruppen und des Gesamt-Kompositums.

Wie geht ein improvisierender (und komponierender) Musiker mit seinem Lebenswerk um? Ein klassischer Interpret kann sich als Spiegelung seiner selbst beispielsweise mit der Einspielung sämtlicher Beethoven-Sonaten oder des «Wohltemperierten Klaviers» von Bach profilieren. Für den Improvisator gibt es keinen Anfang und kein Ende. Und doch will er Zeugnis ablegen, sein Schaffen der Natur des Flüchtigen entreißen, zur Gestalt komprimieren. Hilft im Jazz der Bezug zur Gruppe und/oder zum Publikum oftmals über die eigenen Zweifel hinweg, so ist der Jazzpianist im Studio der einsamste Arbeiter, den man sich vorstellen kann. Dieser hier, Alexander von Schlippenbach, hat eine Grundidee, ein Blueprint, findet zu einer vierteiligen Gliederung und weiß doch zugleich auch, dass neben der Strenge des wissentlich und willentlich genau Gesetzten der immense Zugewinn an Kreativität erst im Prozess des Improvisierens, ja mitunter sogar im vermeintlichen Selbstlauf unter Ausschaltung bewussten Willens entsteht. Zwischen diesen beiden Polen entfalten sich die Twelve Tone Tales, die beim näheren Hinsehen und -hören bereits im Titel einen kreativen Widerspruch offenbaren: Das Zwölftönige steht im Bewusstsein vieler für die Abstraktion (der Neuen Musik), die Geschichte hingegen für die narrativen Aspekte des Jazz (das Storytelling). Aber auch das gilt nur bei grober Verallgemeinerung. Wie sonst hätte Schönberg so emotional «sprechende» Musik schreiben können? Als er von einem Schüler kritisiert wurde, weil er eine Beethoven-Sonate anders erklärt hatte als in der letzten Unterrichtsstunde, antwortete er: «Ich bin auch heute ein anderer Mensch und habe nicht die Verpflichtung, konsequent zu sein, sondern nur die, lebendig zu bleiben.»

Der Pianist allein im Studio. Das ist der Gegenpol zur Arbeit mit dem Globe Unity Orchestra, aber doch zugleich auch eine orchestrale Herausforderung in Gestalt der Tastatur, der Hämmerchen, der Saiten des Korpus. Alexander von Schlippenbach widersteht der Versuchung, im Innenraum des Flügels zu spielen oder die Saiten zu präparieren. Piano pur. Vorbereitet hat er die Zwölftonkompositionen, ein paar Stückideen, mitgebracht einige dieser genialen Themen von Monk oder Dolphy. Der «Rest» ist die Freiheit des Alleingangs und des Selbstlaufes, motiviert von einem Lebenswerk in Bewegung. Drei Tage im Juni.

«Jazz, ja bitte.» Als es in den achtziger Jahren im Kreise bestimmter Improvisatoren beinahe Mode wurde, sich vom Jazz und seiner Geschichte zu distanzieren, hat Alexander von Schlippenbach beharrlich seine Verbundenheit mit dieser Musik und ihren auch physisch erlebbaren rhythmischen Qualitäten betont. Selbst wenn er sich zuweilen weit von den Basiselementen des Jazz entfernt, so wird er dabei immer noch vom Jazz angetrieben. Und wenn er, wie bei diesen Einspielungen, einen Jazz-Standard reharmo-nisiert, dann kann sich umgekehrt auch dabei etwas von der Beschäftigung mit der Zwölftonmusik spiegeln. Alexander von Schlippenbach geht respektvoll, aber undogmatisch mit Traditionen um, fusioniert deren Elemente nicht auf der Ebene der Oberfläche, sondern weiß, Musik-, Spiel- und Lebenserfahrungen zu verinnerlichen, um sie zu veräußern. Komplex, vielschichtig und mit großer Spielfreude kommt er zum Grund und zum Anstoß zurück: zum Jazz.
Bert Noglik

 

 

(engl.)



Three Days in June
How can a life’s work be harvested in three days? Such a project seems impossible in musical improvisation, which is a work in progress, and ultimately a decades-long congruence of life and work. Yet some snapshots or documents of creative phases seem exem-plary, selectively pointing toward the whole. Certainly, Alexander von Schlippenbach’s piano playing should always be considered in the context of his other activities – in the Globe Unity Orchestra, the Evan Parker and Paul Lovens trio, and the duos with Aki Takase or Sven-Åke Johansson. In addition, the contemporary approach to Thelonious Monk of the Berlin band Die Enttäuschung [The Disappointment] highlights essential facets of the pianist von Schlippenbach.The Monk project could be captured on three CDs (Monk’s Casino, Intakt), but a new solo recording proved much more problematic. Large amounts of musical material had collected over the years; they had been played, extended, and accumulated in extensive music-making. Even more important than quantity was quality: both the concentration that gave the work form and the material’s coupling of the intellectual and emotional have to avoid randomness without eliminating spontaneity.

Von Schlippenbach addressed this tension through a strict, four-part formal structure. The Twelve Tone Tales before the four groups of pieces each begin with an invention composed with twelve tones related only to each other. Their improvisational extensions in the paraphrase (and, in some cases, the second invention) also relate to the same twelve-tone row.

On both the conceptual and the technical level, it proves quite astonishing how the pianist introduces compositional principles from New Music into the flow of the improvisation, turning structure into a process. In an interview with me at the beginning of the eighties, he already described this: “While practicing, I sometimes put together a chain of clusters of notes ranging from two or three together (for example, two fingers from the left hand and one from the right) all the way to ten-note chords. If one can work without any interruption, it is possible to put such chords into a continuous context and establish a chain of internally consistent links. The more notes come together, the more complicated it gets, of course.” In the course of years and decades of practicing and playing, von Schlippenbach has developed the ability to work out a sequence of six-note chords with left and right hands in the sense of a twelve-tone row. Such material (comparable to the much more simply structured approach to changes) is by now at his fingertips when-ever he likes, stored in his motor memory, as it were; he can reconfigure it in the process of playing at the highest level of mental and creative concentration.

But the musical and philosophical links to New Music turn out to be more essential than the wholly exciting aspect of piano technique; to be precise, it was the Second Viennese School and the relationship to the composer Bernd Alois Zimmermann, that became von Schlippenbach’s decisive connection to Modernism, with Zimmermann’s own work as particular inspiration. The facts are well-known: at the end of the fifties and beginning of the sixties, one of von Schlippenbach’s teachers was Zimmermann; as a member of the Manfred Schoof Quintett, he performed Zimmermann’s works (the opera “Die Soldaten” [The Soldiers] as well as music for radio plays). Zimmermann further inspired the jazz pianist to integrate aspects of New Music into his work with jazz groups at that time. Finally, in 1966, with the Globe Unity Orchestra, von Schlippenbach realized a new direction for orchestral jazz, freed from conventional limits. Describing his mood at the time, the pianist wrote: “The magic word was a term that, in its Schoenbergian sense, was inadmissible: ‘atonality.’ A true pandemonium of new sounds, forms, and rhythms had opened up and offered those who reached for them and were lucky enough to find like-minded musicians a wide range of creative alternatives.”

Von Schlippenbach assimilates ideas from New Music while still remaining true to the impetus of jazz even in entirely altered acoustic landscapes. Zimmermann’s vision of “the spherical form of time” and of pluralistic composition, in some ways anticipating the freedoms of postserial music and of the improvisers who went through the purging fire of free jazz, permitted an undogmatic approach to principles and traditions (which, of course, is not a charter for the unconsidered and the careless). With Twelve Tone Tales, von Schlippenbach returns, now mature and closing a great circle, to his origins in jazz and to his initial experiences in the realm of New Music, paying homage to his early mentor Zimmermann without neglecting the great Monk (who here stands as a symbol of the striving for innovation inherent in jazz). The Twelve Tone Tales demand concentration on the detail and from the individual, but their full depth only opens up in context – within the sets of four pieces and within the whole composition.

How does an improvising (and composing) musician deal with his life’s work? A classical performer can highlight his self-reflection with a recording of, say, all of Beethoven’s sonatas or Bach’s “Well-Tempered Piano”. For the improviser, there is no beginning and no end. Still, he wants to bear witness, free his work from its temporary nature, and compress it into a form.

If, in jazz, the connection to the group and/or the audience often helps one overcome self-doubt, the jazz pianist in the studio is the most lonely worker imaginable. This one here, von Schlippenbach, begins with a fundamental idea or a blueprint, comes up with a four-part structure, and still knows that, alongside the strand of what one establishes precisely on the basis of knowledge and desire, an immense creative supplement first emerges in the process of improvisation, even when one is sometimes apparently lost in oneself with one’s conscious mind turned off. Between these two poles, the Twelve Tone Tales unfold, revealing, upon closer inspection and listening, a creative contradiction that is even in the title: for many, “twelve tone” stands for abstraction (New Music), while the “tales,” in contrast, represent the narrative aspects of jazz (storytelling). But even that is only true at the level of crude generalization. How could Schoenberg have otherwise been able to write such emotionally expressive music? When he was criticized by a student for explaining a Beethoven sonata in a different way than he had in the last lesson, he answered: “I am a different person today. I am not obliged to be consistent but only to remain alive.”

The pianist alone in the studio. That is the counterpole to von Schlippenbach’s work with the Globe Unity Orchestra; at the same time, it is also an orchestral challenge in the form of the keyboard, hammers, and strings of the piano. Von Schlippenbach resists the temptation to play inside the piano or prepare the strings. Pure piano. He prepared the twelve-tone compositions and a few ideas for pieces, including a few brilliant themes by Monk or Dolphy. What’s left is the freedom of going it alone and losing oneself in oneself, motivated by a life’s work in motion. Three days in June.

“Jazz: yes, please.” When, in the eighties, it became fashionable in certain improvisational circles to distance oneself from jazz and its history, von Schlippenbach insisted on his connection with this music and its rhythmic qualities, so much a matter of physical experience. Even when he sometimes goes a long way from the basic elements of jazz, he is still driven onward by jazz itself. And when, as on these recordings, he reharmonizes a jazz standard, it reflects something of his work with twelve-tone music, too. Von Schlippenbach treats his traditions respectfully but undogmatically, without merely fusing their elements at a superficial level. He knows how to internalize his experiences in music, playing, and life, and then how to express them. With a multi-layered complexity, with tremendous joy in playing, he returns to his foundation and impetus: to jazz.

Bert Noglik | Translation: Andrew Shields

 

 

 

 

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