Das Gesamtwerk von Thelonious Monk Erstmals in der Geschichte des Jazz liegt eine Gesamtinterpretation des Oeuvre von Thelonious Monk vor. Alexander von Schlippenbach erschliesst das Werk der Jazzlegende: Im Konzertabend und auf CD.

 

Angekommen in der Erdumlaufbahn der Sounds

Von Bert Noglik

Immer wieder in der Kunst- und Musikgeschichte begegnen uns Gestalten, die als Aussenseiter begannen und eingeschätzt wurden, sich aber im Nachhinein oder von einer anderen Perspektive betrachtet, als Zentralfiguren wahrnehmen lassen. Zu diesem merkwürdigen, des Merkens und Nachdenkens würdigen Persönlichkeiten zählt ohne jeden Zweifel der Jazzpianist Thelonious Monk. Sein Debüt-Album als Leader von 1952 bekam den Titel „Genius Of Modern Music“. Seine Genialität kam in seltsam faszinierenden Stücken zum Ausdruck, und auch der Begriff „Modern Music“ schien richtig gewählt, denn Monks Schaffen transzendierte den Jazz, zumindest dessen konventionellen Erscheinungsformen.
Die Musik von Thelonious Monk entwickelte sich aus Eigen-Sinn. „Ich bin“, gab er einmal zu Protokoll, „immer hinter neuen Akkorden her, hinter neuen Arten zu synkopieren, neuen Läufen, hinter der Frage, wie man Töne anders benutzen kann.“ Dabei war Monk alles andere als ein Mann, der auf Sensationelles spekulierte. Eher gleichmütig, introvertiert, gelassen entwickelte er eine Musik, wie sie ihm selbst entsprach - etwas kauzig fürwahr, dafür durch und durch originär.

Komponieren in der Küche
Wie mag Monk komponiert haben? In der Küche vielleicht, oder im Jazzklub. Im Regelfall, das ist zu vermuten, am Klavier. In den fünfziger Jahren, als er fälschlich des Drogenbesitzes beschuldigt wurde, und daraufhin seine Cabaret Card, die Genehmigung, in Klubs zu spielen, entzogen bekam, können wir uns eine häusliche Szene wie die von Jeff Dyer beschriebene vorstellen: „Wenn er spielte, war er mit dem Rücken so nah am Herd, dass es aussah, als könnte er im nächsten Moment Feuer fangen. Selbst wenn er komponierte, war es ihm egal, was für ein Tohuwabohu um ihn herum herrschte. Er war in der Lage an einem wirklich heiklen Stück zu arbeiten, während die Kinder zwischen den Flügelbeinen herumkrochen, im Radio laute Country-Music lief und Nellie kochte.“
Auch im Minton’s Playhouse, einem der Klubs, in denen bereits in den vierziger Jahren eine neue Musik entstand, die später den Namen „Bebop“ bekommen sollte, spielte die Küche eine wichtige Rolle. Dort hielt sich Monk zwischen den Sets auf, wenn er nicht am Klavier sass. Schon Anfang 1941/42 spielte er Themen, die heute fast jeder kennt, Stücke wie „’Round Midnight“, „Blue Monk“ oder „Ruby, My Dear“. Und er spielte sieben Nächte in der Woche, von zehn Uhr abends bis zum Morgengrauen. Monk, kein Schreibtischtäter, sondern ein Komponist-Klavierspieler. Und allen Skeptikern zum Trotz: seine Technik, erwies sich letztlich als das souveräne Gestolper zweier asynchroner Hände, als eine geniale Entsprechung seiner kompositorischen Eingebungen.

Monk’s Erben
Kaum ein Pianist, kaum eine Pianistin der europäischen Improvisationsmusik ohne eine enge Beziehung zu Monk. Besonders in der Gründergeneration fällt das auf - nicht nur im Repertoire, sondern auch im Spielverhalten von Iréne Schweizer, dem Beligier Fred Van Hove oder dem Holländer Misha Mengelberg. Letzterer kommt von Monk kaum los und denkt und spielt doch immer über ihn hinaus, voller Respekt und mit einem vergleichbaren Eigensinn. Auch für den Berliner Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach besitzt Monk zentrale Bedeutung. Schon als junger Student an der Kölner Musikhochschule, Ende der fünfziger Jahre, hat er Monk-Stücke gelernt. Später wusste er solche für sein „Globe Unity Orchestra“ zu arrangieren, und er hat Monk-Themen einfliessen lassen - in seine Solokonzerte ebenso wie in das Spielen mit diversen Kleinformationen.
Nun also eine Einspielung mit dem Gesamtwerk von Monk. Doch diese ist eben alles andere als ein ad-hoc-Projekt, sondern beruht auf langer Beschäftigung mit der Musik des genialen Aussenseiters. Was, fragte ich Alexander von Schlippenbach, fasziniert ihn an den Kompositionen von Monk? „Die Themen, das einzigartige Timing, die Art, wie er die Themen verarbeitet.“ Und die widersetzt sich den Klischees, entwickelt auch improvisatorische Fortsetzungen nicht lediglich aus den Harmoniefolgen, sondern aus der Struktur der Stücke. Monk arbeitet mit harmonischen Reibungen und melodischen Sprüngen, mit Asymmetrie und mit Irritation, doch letztlich erscheint jede dieser Komposition in sich logisch. „In manchen seiner Themen“, so Alexander von Schlippenbach, „gibt es so stark formsprengende Elemente auch im Detail, die sich unmittelbar auf die Form auswirken. Manchmal verkürzt er achttaktige Formen auf sieben oder fünfeinhalb Takte, und doch wirken diese Stücke organisch.“

Innovator auf dem Boden der Tradition
Monks Stücke sind nicht aus der Nähe zum Broadway entstanden und daher auch kaum geeignet, mit Texten versehen zu werden. Monk komponierte Jazz im Sinne von moderner Musik. Dennoch, auch das macht die Angelegenheit so spannend, hat Monk die Geschichte des Jazzpianos, insbesondere die des Blues- und Harlem-Stride-Piano, aufgesogen. Er ist ein Innovator auf den Füssen der Tradition, er taucht auf, als der moderne Jazz entsteht, ist an dieser Entwicklung beteiligt, aber doch, was seine Stilistik anbelangt, so eigen, dass er sich nicht ohne weiteres dem Bebop subsumieren lässt. Monks Musik entwickelt eine Eigendynamik. „Jedes seiner Themen“, schwärmt Alexander von Schlippenbach, „hat so in rhythmisches ‚Drehmoment’, das uns auf die Sprünge hilft.“
Die Magie von Monk führt Alexander von Schlippenbach zu „Monk’s Casino“. Das ist ein imaginärer Ort, an dem das Gesamtwerk von Monk in rasanter und illustrer Folge Revue passiert. Doch Monk ist kein Klassiker in der Art europäischer Komponisten vergangener Jahrhunderte. Was also bedeutet Gesamtwerk in diesem Falle? Schlippenbach konzentriert sich auf die siebzig Kompositionen Monks. Doch er nähert sich diesen alles andere als akademisch, auch nicht chronologisch oder systematisch, sondern unter dem Aspekt der Bearbeitung für die Aufführung an einem Abend.
Das Programm „Monk’s Casino“ ist aus der Zusammenarbeit Alexander von Schlippenbachs mit der Berliner Band „Die Enttäuschung entstanden, ein Quartett mit dem Bassklarinettisten Rudi Mahall, dem Trompeter Axel Dörner, Jan Roder am Bass und Uli Jennessen am Schlagzeug. Die vier Musiker, die einer sehr viel jüngeren Generation angehören als Alexander von Schlippenbach, beschäftigen sich seit geraumer Zeit neben eigenen Stücken auch mit Monk.
In einer Reihe von Konzerten widmeten sie sich gemeinsam mit Schlippenbach dem Konvolut der Monk-Kompositionen, diese schliesslich in drei Sets an einem Abend (und nun auf drei CDs) präsentierend. Vieles hat sich aus dem Spielprozess ergeben: dreieinhalb Stunden mit Monk-Musik in unterschiedlichen Aneignungsformen. Neu sind nicht nur die Arrangements, sondern auch die Spielhaltungen, mit denen die Stücke vorgetragen und improvisatorisch ausgestaltet werden. Manchmal erklingt auch nur das Thema und gelegentlich hört man Stücke, die sich simultan überlagern oder die aus der Perspektive einer eigenen, also nicht von Monk stammenden Komposition betrachtet werden.

Überraschung und Irritation
Baukastenarbeit und Collage, Methoden, die bei Monk bereits angelegt sind, werden genutzt um einen langen Abend im Konzert oder vor dem CD-Player abwechslungsreich und spannend zu gestalten. Zur Strategie der Gesamtdramaturgie gehört die Überraschung und die Irritation. Doch der Zu-Fall folgt der Logik des spielerischem Umgangs mit dem Material. Die Ent-Täuschung erweist sich als eine unkonventionelle Sicht auf Monk, ein „Konzeptalbum“ ohne Methodenzwang. Schliesslich hat Monk selbst seine Kompositionen in unterschiedlichen Versionen gespielt, einige von ihnen abgeändert bzw. reharmonisiert.
Allein die Stücke aufzufinden, war für Schlippenbach und seine Kollegen eine mühsame Angelegenheit. Als die Arbeit an dem Projekt begann, gab es noch nicht das mittlerweile in Umlauf gebrachte und auch von Monk-Kennern authorisierte „Fake Book“. Von Monks Kompositionen kursieren unterschiedliche Transkriptionen, die oft in Gestalt abgegriffener Fotokopien unter Musiker und Musikerinnen weitergereicht werden. Eine Sammlung bzw. ein Reprint von Autographen scheint nicht zu existieren. „Er gab seine Noten nicht gern aus der Hand“, sinniert Jeff Dyer über Monks Mentalität, „mochte es nicht, wenn andere Leute sie sahen, er gab nichts gern aus der Hand. Und wenn er rausging, wickelte er sich gerne in einen Mantel ein - Winter war seine Jahreszeit -, und er zog es vor, nicht allzu weit abzuschweifen. Im Studio bewahrte er seine Kompositionen in einem kleinen Buch auf, das er nur widerwillig anderen Leuten zeigte, stopfte es immer sofort wieder in seine Manteltasche zurück, wenn er fertig war, sperrte es weg.“
Vielleicht hat ja Nelly gelegentlich eine von Monks Kompositionen zum Feueranzünden benutzt, so, wie einst Anna Magdalena Bach möglicherweise mit dem Notenblatt einer Fuge Sauerkraut einwickelte. Monk hat nicht für die Nachwelt komponiert. Doch seine Klänge sind, so hat er der Sopransaxophonist Steve Lacy, der sich einen Grossteil seines Lebens mit den Kompositionen Monks beschäftigte, einmal formuliert, „heute angekommen in der Erdumlaufbahn der Sounds“. Sie begegnen uns sogar in Werbejingles, und „’Round Midnight“ zählt zu den meistgespielten Jazzthemen. Doch die musikalische Signatur, der Eigen-Sinn von Monk erschliesst sich erst in der Vielschichtigkeit und Opulenz eines „Gesamtwerks“ mit vielen, oft unbekannten kleinen Juwelen. „Monk’s Casino“ lässt sie aufleuchten.

(Die WOCHENZEITUNG, WOZ, 11. Febr. 2005)