14. März 2012

Dienstagabend ging das „INTAKT-Festival at The STONE“ in die dritte Woche. Der Club wird langsam zum Zuhause. Wir kennen inzwischen die „regulars“, ebenso den Mann an der Kasse, wissen, wo man in der Pause zwischen dem ersten und zweiten Set schnell etwas Akzeptables essen oder trinken kann.

Pierre Favre gehörte der erste Teil des Abends. Mit Samuel Blaser (Posaune) und Philipp Schaufelberger (Gitarre) hatte er zwei jüngere Musiker zu einem Trio vereint, mit denen er jeweils bereits ein Duo-Album veröffentlicht hat. Favre ist der Mittelpunkt des Ensembles. Bei ihm laufen die Fäden zusammen. Schaufelberger sorgt für das harmonisch-melodische Environment, um auch gelegentlich zu solistischen Ausflügen anzusetzen, während Blaser meistens die Führungsstimme übernimmt. Die Band hat Power und basiert ihre interaktiven Explorationen auf treibenden Rhythmen, die Favre vorgibt und die klarmachen, dass hier ein Jazzdrummer agiert, der nicht nur das freie Spiel beherrscht, sondern lange Zeit in Bigbands sein Geld verdiente.

Jürg Wickihalder’s Overseas Quartet entstand vor Jahren als der Schweizer Musiker in den USA Saxofon studierte. Wickihalder hat originelle Kompositionen für die Band geschrieben, die aus dem rahmen fallen und die ganze Jazzhistorie durchwandern, selbst in Dixieland Stadion manchen. Schlagzeuger Kevin Zubek und Bassist Fabian Gisler agieren als formidable Rhythmusgruppe mit enormem Drive und Swing, dabei dezent und einfühlsam. Ähnlich eindrucksvoll setzen sich die beiden Holzbläser in Szene, wobei Achille Succis Instrumentarium mit Altsaxofon und Bassklarinette unwillkürlich an Eric Dolphy denken lässt, der lange Zeit in Downtown Manhattan lebte. Am Tag zuvor hatte wir den bildenden Künstler Joe Overstreet getroffen. Overstreet ist ein Veteran der „Artistic Community“ der Lower East Side und betreibt mit seiner Frau Corine eine Kunstgalerie in der 2. Straße, nur einen Steinwurf vom STONE entfernt. Er erzählte uns, dass er einst im selben Haus wie Eric Dolphy wohnte, in der Wohnung über der des Jazzmusikers, „which was a bit of a problem, because he practiced 24 hours a day!“

Christoph Wagner

Nur hören

Da fliegt man zum Beispiel von Hamburg nach New York, um Europa einfach einmal ein paar Tage hinter sich zu lassen, da stellt sich einem in Manhattan die Schweiz in den Weg. In allen lokalen Musik-Publikationen angekündigt: Das Zürcher Intakt-Label zu Gast in The Stone.

Am Sonntag die Schaffhauserin Irene Schweizer, die man immer so gern sieht, im Duo mit dem New Yorker Andrew Cyrille, den man noch nie gesehen, von dem man aber all die Platten hat, mit Cecil Taylor damals…

Klavier und Schlagzeug, Rheinfall am East River, Frau versus Mann. Man geht also hin. Aber wo ist The Stone? Man steht vor der angegebenen Ecke im East Village und sieht nichts. Blinde Fenster, kein Schild, keine Tür. Ist das wirklich hier?

Dann ist da doch eine Tür – als sie sich öffnet. Man muss hier hineinwollen, sonst ist man hier nicht richtig. Drinnen schon alles voll und voller Hinweise: keine Fotos, keine Tonaufnahmen, keine Getränke. Nur hören.

Kam die Musik einst aus dem Ritus in die Welt, kehrt sie hier in John Zorns Allerheiligstes zurück. The Stone ist eine Schuhkartonkirche des Klangs. Siebzig Klappstühle, zwei Baumarktstrahler, damit man weiß, wo die Musiker sind. Alles Weltliche fehlt.

Jazz – war das nicht Rauchen und Trinken? Zogen die Musiker 1918 nicht von New Orleans nach Chicago, weil die Bordelle, in denen sie spielten, von Amts wegen geschlossen wurden? Woher kam noch mal das Wort “Funk”? War Jazz nicht immer auch schmutzig und Sex?

Vielerlei geht einem durch den Sinn und auch gar nichts, wenn sich im Flügel die ersten Strudel bilden, Stromschnellen des Boogie-Woogie, die sich in die Savanne wühlen, was für ein Sepia, welch ein Umbra, und man spürt von ferne die Trommeln.

Vieles klingt an, vieles fehlt, eine Momentaufnahme. Nach einer Stunde Beifall, frohes Lachen, Gespräche in Grüppchen, dann entlässt The Stone die Gemeinde in die große Stadt. Hier gibt es Bier, da ein Bett, und gehört ist gehört.

Ulrich Stock, Redaktor DIE ZEIT

Mit und ohne Netz

Mit dem Jürg Wickihalder European Quartet hat am Freitag ein neuer, etwas anderer Ton im jeden Abend nahezu ausverkauften “Stone” Einzug gehalten. Das Quartett mit Irène Schweizer, dem Bassisten Fabian Gisler und dem Schlagzeuger Michael Griener spielte das vielleicht “jazzigste” Set des bisherigen Festivals. Wickihalders Kompositionen, die auch auf der CD “Jump!” zu hören sind, stehen am ehesten in der Tradition des Postbop – nicht von ungefähr, denn Irène Schweizer und Jürg Wickihalder haben sich über ihre gemeinsame Liebe zu Thelonious Monk und Steve Lacy kennengelernt. Quirlige, bei aller Raffinesse leichtfüssig wirkende Themen, über die Wickihalder und Irène Schweizer mit viel Spielwitz und stupender Virtuosität ihre Girlanden und perlenden Tonkaskaden spannen. Fabian Gisler und Michael Griener lassen die Musik über weite Strecken “klassisch” swingen. Unüberhörbar: Die vier sind ein perfekt aufeinander eingespieltes Team, das ohne lange Suchläufe und vorsichtige Annäherungen gleich zur Sache kommt. Ein New Yorker Jazzkritiker, der für diverse Fachzeitschriften und Zeitungen schreibt, fast jeden Abend im “Stone” aufkreuzt, dessen Visitenkarte mir leider abhanden gekommen ist, fragte mich nach dem Konzert: “Warum wissen wir hier eigentlich so wenig über den grosartigen Schweizer Jazz?” Ich weiss nicht, ob ihm meine Antwort gefallen hat: “Weil die amerikanischen Jazzkritiker so chauvinistisch sind.”

Dass das zweite Set des Abends etwas verhaltener, zögerlicher begann, ist nur verständlich. Wer hätte nicht eine gehörige Portion Respekt, wenn er plötzlich mit einem der fulminantesten Posaunisten der Jazzgeschichte auf der Bühne steht? Aber Ray Anderson, der unkomplizierte Sunnyboy der New Yorker Jazz, machte es dem E-Bassisten Jan Schlegel und dem Schlagzeuger Dieter Ulrich leicht; der mit allen Wassern gewaschene Routinier liess sich ohne Weiteres auf die feingesponnenen, sublimen, zuweilen etwas spröden Klanggespinste der beiden Schweizern ein. Da hatten wir sie wieder, die freie Improvisation als gewagtes Spiel ohne Netz, die hohe Kunst, scheinbar unabhängige, disparate Soundpartikel und rhythmische Figuren in näherer und fernerer Distanz um einen imaginären musikalischen Schwerpunkt kreisen zu lassen. Auch wenn man den munteren Posaunisten, der in den 70er-Jahren mit seiner Funk-Gruppe “Slickaphonics” das Publikum von Moers bis Montreux zum Rasen brachte, gern auch einige Minuten lang beim urigen Grooven zugehört hätte.

Christian Rentsch

11. März 2012

Sonntagmorgens geht es nach Harlem, um einem Gospelgottesdienst in der Shiloh Baptists Church beizuwohnen, einer „black church“ am Adam Clayton Powell Jr. Blvd, die mir vom Bluesforscher Sam Charters empfohlen worden war. Wir sind nicht die einzigen weißen Gäste in einem „Service“, der manchmal beinahe ekstatische Züge annimmt. Eine Hymne jagt die andere, von einer Jimmy-Smith-Orgel und einem Schlagzeug begleitet. Die Gemeinde heisst uns Gäste ausdrücklich willkommen, besteht ab zurecht darauf, dass ihr Gottesdienst nicht zum Touristenklamauk verkommt. „No photographs!“ bellt mich eine Ordnerin im weißen Kostüm prophylaktisch an, als ich die Kirche betrete und sie meinen Rucksack erspäht.

Als Konzertfotograf hat man es nicht leicht. Manuel Wagner, mein Neffe, der in Stuttgart als Retoucheur und Fotograf (viel für die Autoindustrie) arbeitet, covert das gesamte Festival, von INTAKT dazu bestellt. Patrik Landolt war eine einzige ästhetische Handschrift wichtig. Im Gegensatz zur Fotografin des Downbeat, die nur zu einem Konzert erschien (Malaby/Griener/Friedli) und total professionell, deswegen aber auch ohne Rücksicht auf Verluste, in die leisesten Passagen hineinknipste, bemüht sich Manuel möglichst dezent zu agieren und trotzdem interessante Bilder zu schießen, wofür es zwingend ist, den richtigen Augenblick zu erwischen. Dafür muss Manuel vor allem von ein paar Konzertbesuchern aus der ersten Reihe gelegentliche Anfeindungen in Kauf nehmen. Er ruiniere ihren Kunstgenuss, lauten die Vorhaltungen. Wir nennen diese Zeitgenossen inzwischen „Jazz-Taliban“, weil sie nichts als den reinen, puren, unbefleckten Konzertgenuss suchen. Manuel sieht sich von solchen Fans vor die nicht ganz leichte Aufgabe gestellt, das Festival bildlich zu dokumentieren, doch am besten keine Fotos zu machen.

Andrew Cyrille, Schlagzeug-Meister, bekannt vor allem durch seine jahrelange Zusammenarbeit mit Cecil Taylor, bildete die Achse der Konzerte vom Sonntag. Zuerst trat er im Duo mit seinem Bandkollegen vom Trio 3, Oliver Lake, auf, im zweiten Set dann mit Irene Schweizer. Der Auftritt mit Lake wurde zu einer Manifestation der „great black music“. Ob afrikanische Trommelpattern, ekstatische „Blow Outs“ oder swingende Nummern – Cyrille und Lake schöpften aus dem gesamten Kosmos schwarzer Musik. In einer Trommelkomposition verneigte sich Cyrille vor Art Blakey, einem der Erfinder des modernen Jazzschlagzeugspiels, der mit seinem Album „Orgies of Rhythm“ das afrikanische Kontinuum unterstrich und Wesentliches zur Emanzipation des Instruments beitrug.

Cecil Taylor hatte vor Jahren Andrew Cyrille auf eine Schweizer Pianistin aufmerksam gemacht und ihm eine Zusammenarbeit mit ihr empfohlen. Im STONE wurde die inzwischen langjährige Verbindung von Cyrille mit Irene Schweizer aufgefrischt. Obwohl mittlerweile im Pensionsalter, spielt Schweizer so frisch wie eine Neueinsteigerin, schüttelt mit Leichtigkeit perlenden Läufe aus dem Ärmel und lässt die Finger nur so über die Tasten jagen oder tanzen. Dabei hat ihr Spiel eine genauso starke rhythmische wie melodische Komponente. Als „Chorus“ einer Improvisation zitierte sie eine Komposition von Don Cherry. So frei Schweizer auch spielt, sind ihre Wurzeln in Bebop und Hardtop doch immer präsent. Cyrille stellte sich darauf blendend ein. Er ließ die Trommeln sprechen oder markierte mit relaxtem Spiel auf den Becken einen losen Swing. Rundum ein äusserst geglückter und konsistenter Abend!

Christoph Wagner