INTAKT RECORDS
IRÈNE SCHWEIZER

 

IRÈNE SCHWEIZERS 60. GEBURTSTAG

2. Juni 2001: Presse, Reden, Laudatio

 

 

 

Laure Wyss

10. Juni, Schauspielhaus Zürich
Vor dem Duo-Konzert von Irène Schweizer mit Pierre Favre aus Anlass des 60. Geburtstags der Pianistin. Organisiert von Fabrikjazz und Intakt Records.

 

Meine Damen und Herren

Ich bin glücklich, zur Freude dieses Abends ein paar Worte zu sprechen – dies, obschon ich nicht vom gleichen Fach bin wie die gefeierte Musikerin. Die Tatsache jedoch, dass ich mich in einer andern Branche bewege, gibt mir vielleicht die grössere Freiheit, unbefangen meine Bewunderung für Irène Schweizer auszudrücken und meinen ganz persönlichen Dank an sie zu formulieren. Irène hat mich nämlich in meinen eigenen, den oft zögerlichen Schreibunternehmungen ernst genommen, mich angestachelt, vor allem hat sie in mir das Zutrauen in die eigene Produktion gefördert. Ihre Töne bringen mir Wörter. Ich denke, Irène hat keine Ahnung davon, darüber gesprochen haben wir nie, aber für mich ist die heute Gefeierte ein Vorbild, mehr: eine grossartige Kollegin.

Das kam so:

Vor Jahren, auf einer Zeitungsredaktion, berichtete mir ein junger Kollege von einem Konzert, das ihn am Tag zuvor tief beeindruckt hatte und fügte bei: «Du kannst dir nicht vorstellen, wie diese Pianistin aus Schaffhausen sich verändert, wenn sie in die Tasten greift, ihr Spiel macht sie zu einer total andern Person.»

Natürlich interessierte mich das, ich ging hin, ich hörte fasziniert zu, ich schaute, ich sah, wie Irène Schweizer in die Tasten griff, die Saiten ihres Instrumentes zupfte und aufs Holz schlug. Ihr Instrument wurde zum Klangkörper von vorn nach hinten, von oben bis unten. (Fachleute sagen, die Schweizer habe das europäische Instrument afrikanisiert.) Nun, ich merkte bald, dass es sich hier nicht nur um die Äusserungen eines gewaltigen Temperamentes handelt, ergreifender für mich die Veränderung der Musikerin selbst, wie wenn ihr Spiel, ihr Werk auf sie zurückschlüge, sie in eine andere Welt versetzte, eine Welt, der sie in allen Teilen gewachsen ist, die sie souverän beherrscht. Da sass bescheiden, fast ein bisschen grau, eine Musikerin, die, spielend, erstrahlt zum Weltformat. Ich begriff auch, dass eine Begabung, eine Phantasie nur dann zur grossen Wirkung gelangt, wenn sie auf exaktem Handwerk fusst. Nur auf geübtes Handwerk ist Verlass. Ich beobachtete die hohe Konzentration dieser Künstlerin, ihre Unermüdlichkeit, ihre Stetigkeit, auch ihre Treue gegenüber Mitspielenden – und sie ist unerbittlich in der Frage der Qualität. So spielt Irène Schweizer seit 30 Jahren mit dem Meister des Schlagzeugs, Pierre Favre, den wir mit grösstem Vergnügen in einigen Minuten zusammen mit Irène spielen hören.

Eine schier skurrile Erinnerung: Als Geschenk für ein junges Freundespaar, das seine Hochzeitsfeier im Wald am Pfannenstiel oben begehen wollte – ich sollte dort eine Rede halten – liess ich mir als Überraschung Irène Schweizer einfallen. «Ach so», antwortete die Angefragte, «U-Musik, für eine Hochzeit, na ja, mache ich.» Schwieriger, viel komplizierter, der Pianistin den ihr angemessenen Flügel zur richtigen Zeit, bei richtigem Wetter, in die richtige Waldlichtung zu kriegen. Die Überraschung gelang, die Gesellschaft, auf steilem Waldweglein hinunter zu einer Wegkreuzung, wo Irène Schweizer am Flügel spielte. Ein einziger Jogger überquerte das Bild. «Ist sie es wirklich? Ist sie es? Kann man sie anfassen?», wurde gefragt. Später dann kam die Überraschung für mich. Nach der Rede neues Spiel der Pianistin, ich danke ihr, sie meint trocken, war ja wohl leicht, ich improvisierte Deinen Text. «Donnerwetter», sagte ich mir, «diese Künstlerin nimmt Worte ernst».

Eine nächste Situation: Es muss 1996 gewesen sein, in der Roten Fabrik, gegen 3000 Leute, sehr viele Darbietungen gleichzeitig zum 15. Geburtstag der WoZ. Ich sollte, nach einem blendenden Konzert der Irène Schweizer mit Co Streiff, nach einer Pause im gleichen Saal Gedichte lesen, meine späten ersten. Ich ging in die Garderobe, um die Beleuchtung für meine Lesung zu besprechen, Irène sass noch da, sagte, sie bleibe, um mir zuzuhören. Es war leicht, sie zu bitten, auf der Bühne Platz zu nehmen, sich also an den Flügel zu setzen. Ich fing an, sie fiel mir passend in die Lyrik, wir spielten gleichsam zusammen, es wurde eine grosser Erfolg, das heisst, es war mäuschenstill im Saal, hinterher zeigte es sich, dass nicht ein Dutzend, sondern 700 junge Menschen zugehört hatten. So war das.

Ich möchte noch hinzufügen, dass Zürich reicher, urbaner ist, weil seit Jahrzehnten Irène Schweizer hier wohnt, sie geht durch unsere Strassen, wir können sie anfassen, wir können sie sehen, wir können mit ihr reden, auch über Feminismus z. B., wir können sie oft hören. Und heute gratulieren wir ihr zum Geburtstag und rufen ihr jubelnd zu: Herzlichen Dank, ein grosses Merci und Evviva !

 

 

 

 

Patrik Landolt

16. Mai im Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen
Vor dem Solo-Konzert von Irène Schweizer aus Anlass des 60. Geburtstags der Pianistin im Rahmen des Jazzfestivals Schaffhausen

 

Meine Damen und Herren, liebe Irène

Vor genau 24 Jahren - ich wohnte damals in Thalwil und war an der Universität Zürich zum Studium eingeschrieben - organisierte ich als Beitrag zur Belebung des Schlafvorortes Thalwil eine Konzertreihe im Singsaal des Schulhauses mit drei Piano-Solos. Es begann Abdullah Ibrahim/Dollar Brand, dann spielte der amerikanische Pianist Art Lande und als dritte tratt Irène Schweizer auf. Irène Schweizers Solo war ein aussergewöhnliches Konzert, mitreissend und die kleine Fangemeinde im Singsaal war von der Musik von Irène begeistert. - Eine erste Erfahrung mit Irène Schweizer und ihrer Musik: Wer die Pianistin hört, wer sich auf die Musik einlassen kann, geht zusammen mit der Improvisatorin auf Abenteuerfahrten und entdeckt neue Welten.

Über die künstlerischen Qualitäten von Irène Schweizers Musik ist in den letzten Wochen viel geschrieben worden. «Sie hat das europäische Instrument afrikanisiert», schrieb Ulrich Stock in «die Zeit». Ein grosses Lob. Der amerikanische Kritiker John Corbett, der für die Jazzzeitschrift «Downbeat» arbeitet, schwärmte von Irène Schweizers Chicago Solo Konzert vom Februar 2000, das jetzt als CD dokumentiert und somit für eine grössere öffentlichkeit nacherlebbar ist: «Es war eine der besten Pianodarbietungen, die ich je gehört habe». Weitere Beispiele von begeisterten Äusserungen zur Musik von Irène liessen sich duzendweise anfügen. Die Jazzkritik schreibt über Irène Schweizer ausschliesslich positiv. Ich habe über all die Jahre nie eine negative CD-Kritik gelesen.

Seit dem Konzert in Thalwil Ende der siebziger Jahre hat sich zwischen Irène und mir eine bis heute dauernde Zusammenarbeit und Freundschaft entwickelt, deren Resultat Ð unter anderem Ð sich in bald zwanzig CD-Veröffentlichungen von Irène Schweizer auf Intakt Records zeigt. Es ist eine Zusammenarbeit, die auch mein Leben verändert hat. Ð Vom ersten Taktlos-Festival, das wir 1984 in der Roten Fabrik organisierten und an dem Irène Schweizer im Mittelpunkt stand, sendeten wir die Aufnahmen des Radiomitschnittes an mehrere CD-Firmen. Wir blieben aber regelrecht auf den Bändern sitzen. Es fand sich kein Label, das die Musik herausgeben wollte. So entschieden wir - das waren Irène Schweizer, Fredi Bosshard und Rosmarie A. Meier und ich - die Musik selber auf Platte herauszugeben. Irène Schweizers Musik war Mitte der achtziger Jahren in der Schweiz stark unterdokumentiert. Ältere Platten, die beim Berliner Label FMP veröffentlicht wurden, waren im hiesigen Plattenhandel kaum zu finden. Die von uns veröffentlichte Platte «Irène Schweizer live at taktlos» (Intakt LP 001) wurde zu einem Erfolg, der uns ermutigte, weitere Projekte in Angriff zu nehmen. Ich bin also, ohne dass ich mich je bewusst dazu entschieden hätte zum Verleger geworden. Zufall, ein gewisser Ärger über die damalige Verlagslandschaft spielten eine Rolle. Ausschlaggebend aber war und ist bis heute ein Enthusiasmus für diese wunderbare Musik, also ganz wesentlich für Irène Schweizers Musik.

Von dieser ersten Begegnung in Thalwil ist mir in Erinnerung geblieben: Die hohe Qualität der Musik und unsere Begeisterung über die Improvisationen von Irène Schweizer stand im Gegensatz zum geringen Interesse, welches die Thalwiler diesem Konzert entgegenbrachten. Der Saal war nicht voll, und da mich elitäre Zirkel depressiv machen -, drängte sich schon damals die Frage auf, die sich allen CD-Produzenten von kreativer Musik oder Festivalorganisatoren dauernd stellt: was kann und muss im Kulturbetrieb getan werden, damit diese grossartige Musik von mehreren Leuten gehört, anerkannt und geschätzt wird. Die Frage stellt sich für jene um so dringender, die von der gesellschaftspoltischen Einsicht geleitet sind, dass Kultur und insbesondere Musik, wie sie Irène Schweizer spielt, gesellschaftsprägende und zukunftsbestimmende Werte birgt. Eine Improvisationsmusik, die sowohl traditionsbewusst wie offen ist, erinnernd und innovativ - und die über aussergewöhnliche Kommunikationsstärken, Eigensinn und seismografische Fähigkeiten verfügt.

Die Frage nach der Vergrösserung des Publikums und der Verbreiterung der Musik ist bis heute eine der grosse Herausforderungen geblieben. Ich möchte Sie jetzt nicht mit Geschichten aus der unspektakulären Knochenarbeit eines Verlages langweilen, sondern allgmein formulieren: In der Verlagsarbeit werden die Schwierigkeiten von Produktion von heutiger Kunst auf eine krasse Weise deutlich und somit die Produktionsbedingungen aktuellen Kunstschaffens täglich erlebbar. Die Enge des Kulturschaffens entsteht heute nicht mehr in erster Linie durch das Leiden des Künstlers an der Mentalität der Heimat Schweiz, wie dies Paul Nizon in den sechziger Jahren für die hiesige Literatur formuliert hatte. Die Enge heutiger Kulturproduktion besteht darin, eingeklemmt zu sein zwischen den Planierungsabsichten des freien Marktes, sprich: der radikalen Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche, des Kulturbetriebs, der TV- und Radio-Redaktionen, der Freizeit Ð und andererseits den Regulierungswünschen des Staates, sprich: der Kulturförderung. Eine Kulturförderung, welche gerade in den letzten Jahren dazu neigte, sich auch immer mehr der Logik des Marktes anzupassen; Ð mit verheerenden Auswirkungen auf die kreative, innovative Musik.

Vielleicht klingt es etwas altmodisch: Ich bin aber überzeugt, jede innovative Bewegung, jede Kunst von Wert ist entstanden, gereift und gross geworden im Ringen um Autonomie und im Prozess der Befreiung. Irène Schweizer hat sich über die letzen dreissig Jahre mit beachtenswerter Hartnäckigkeit frei gespielt. Dass sie über sämtliche Stile des Jazz verfügt - vom Ragtime über Bebop bis zum freien Spiel - diente ihr zur Befreiung vom stilistischen Korsett. Dies gab und gibt ihr erst die Möglichkeit zu einer eigenen, unverkannbaren Sprache. Ihre Sensibilität für die Fragilität künstlerischer Freiheit und ihr Interesse an gesellschaftlichen und politischen Realitäten, prägen den Kosmos ihres künstlerischen Ausdrucks, geben ihrer Musik quasi Bodenhaftung.

Dafür - und selbstverständlich zum sechzigsten Geburtstag - möchte ich herzlich gratulieren. Ganz besonders freut mich, dass diese Musik von Irène Schweizer ein Publikum - wenn auch ein sehr ausgewähltes - findet; ein Publikum, das in den letzten Jahren grösser geworden ist, wie auch der erfreuliche Andrang hier im Museum zeigt. In diesem Sinne freue ich mich, dass Irène dieser Tage in ihrem Geburtsort Schaffhausen, später in Le Prese und dann im Zürcher Schauspielhaus gefeiert wird.





Richard Butz, WochenZeitung, WoZ, 9. Mai 2001

Irène Schweizers neue Soloausflüge
Poetische Improvisationen

Die Pianistin Irène Schweizer hat 1958 in ihrer GeburtsstadtSchaffhausen begonnen, Jazz zu spielen; Boogie-Woogie, Blues,Ragtime. Bereits in den sechziger Jahren trat sie im legendären Zürcher Jazzcafé Africana in Hardbop-Formationen auf. Mitte der siebziger Jahre fand sie den Weg in die freie Musik und nahm in der Folge regelmässig für das Berliner FMP-Label auf. Die Musikerin hat die musikalische Frauenbewegung stark mitgeprägt, etwa zusammen mit der Feminist Improvising Group, der European Women Improvising Group und Les Diaboliques. Seit langem pflegt sie, die selber als Schlagzeugerin auftritt, das Zusammenspiel mit Drummern, so mit Pierre Favre, Han Bennink, Louis Moholo, Günter Sommer oder Andrew Cyrille. Ein künstlerischer Höhepunkt sind dieAufnahmen mit dem London Jazz Composers Orchestra aus dem Jahre1992, für die Leader Barry Guy «Theoria» komponierte. Auffallend ist, dass die Pianistin über Jahrzehnte hinweg mit den gleichen PartnerInnen, so in jüngerer Zeit auch mit Co Streiff und OmriZiegele am Saxofon, zusammenarbeitet. Parallel zu diesen Aktivitäten tritt und nimmt die Pianistin regelmässig solo auf. Ihre ersten Soloalben liegen über ein Vierteljahrhundert zurück. Seit siev om Zürcher Intakt-Label mustergültig betreut wird, sind zwei weitere Soloproduktionen, eines davon ein Doppelalbum, erschienen.Jetzt legt Intakt zum 60. Geburtstag von Irène Schweizer ein weiteres Soloalbum vor: «Chicago Piano Solo» ist im Februar 2000 in Chicago live aufgenommen worden und enthält neun Stücke.

Hüben oder Drüben mit Innigkeit 1996 spielt Irène Schweizer in der alten Kirche Boswil live ihre Instant-Komposition «Hüben wie Drüben» ein; hüpfend, perlend,witzig, ironisch-stolpernd, beherrscht und fast motorisch durchgezogen, bis hin zum langsam verebbenden Schluss. Diese Interpretation erscheint 1996 auf der Piano-Solo-CD «Many and One Direction», entstanden in Erinnerung an die im Jahre 1963 verstorbene Schweizer Malerin Sonja Sekula. Vier Jahre später, im Februar 2000, sitzt die Pianistin an einem etwas weniger guten, aber tauglichen Instrument im Chicagoer Club «Empty Bottle» und interpretiert ein Stück mit dem leicht abweichenden Titel «Hüben ohne Drüben». Es ist jetzt auf dem neuesten Soloalbum als siebtes Stück zu hören. Ein Vergleich dieser zwei Stücke ist aufschlussreich. Bei der Chicagoer Version geht die Pianistin ganz anders vor. Sie tippt das melodische Ausgangsmaterial lediglich an, es folgt eine längere suchende Phase,in der die Pianistin zu zögern scheint (obwohl sie natürlich immer weiss, was sie will). Anstatt das Stück verebben zu lassen, gestaltet sie es konsequent bis zum letzten Ton durch. Neu Ð und dies vor allem Ð ist diese Version voller Poesie. Der zur Worthülse geratene Begriff Innigkeit erhält hier seine ursprüngliche Bedeutung zurück.

In einem Interview mit dem Musikkritiker Ulrich Stock(«Jazzethtik» Nr. 5/01) erklärt Irène Schweizer, dass ihr Technik zunehmend weniger wichtig sei und sie an ihre Stelle die Poesie setze. Als Beispiele für Poesie im Jazz nennt sie Pianisten wieThelonious Monk oder Misha Mengelberg sowie Trompeter Don Cherry und den erdigen Drummer Ed Blackwell. Den 1995 verstorbenen Don Cherry, der oft ganz einfache Themen zu beseelten Kabinettstücken verarbeitete, ehrt sie auf dem neuen Album mit dem vierten Titel «Togetherness One (First Movement)» auf eindrückliche Weise. Gleich anschliessend greift sie auf «Stringfever» in die Saiten. Sie trommelt mit Fingern auf Saiten und Holzrahmen, lässt Glöckchenerklingen, spielt gleichzeitig auf Tasten und zupft oder streicht Saiten, sie schnalzt und ruft, trommelt einen schnellen Rhythmus.Dies alles ist ganz im Stile der zeitgenössischen Musik von Cage, Kagel und Stockhausen, die Irène Schweizer als wichtige Einflüssebezeichnet. Nur vergisst sie Ð anders als die meisten E-MusikerInnen Ð dabei den Rhythmus nicht.

Hommage an Südafrikas Jazz
Der Rhythmus ist für Irène Schweizer ein tragendes Element der Musik. Dies gibt sie im anschliessenden «Circle» kräftig und unmissverständlich zu verstehen, worauf das ausführlich beschriebene «Hüben ohne Drüben» folgt. Der kurze, verspielte «Rag»(Stück 8) verweist auf zweierlei: zum einen auf Thelonious Monk, den die Pianistin verehrt und dessen vertrackte Eigenwilligkeit oft in ihrem Spiel aufscheint, und auf die Jazztradition, der sie sich bei aller Experimentierfreudigkeit verpflichtet fühlt. «Roots», das amSchluss des Albums steht, ist ähnlich wie die Albumeinleitung «So oder so» eine Hommage an den südafrikanischen Jazz. Er hat Irène Schweizer schon in den sechziger Jahren in London und Zürichinspiriert. Doch nicht die säuselnden und verblasenen pianistischen Spielereien eines Abdullah Ibrahim (Dollar Brand) von heute sind hier gemeint. Vielmehr erinnert sich die Pianistin an den einst innovativen Jazz von Dollar Brand und Makaya Ntshoko, an treibende Rhythmen und zündende Improvisationen, an Kwela- undTownship-Jazz und an die später ins Exil gegangenen Blue Notes rundum den Pianisten Chris McGregor. Hier spricht sie mit Hochachtung vom Bassisten Johnny Dyani und Drummer Louis Moholo, mit dem sie oft zusammengespielt und auch ein ausgezeichnetes Duo-Album aufgenommen hat.
Auf «So oder so» folgt als zweites Stück eine Ehrung an den Aufnahmeort: «To the Bottle» ist ein impressionistisches, fast schon verspieltes, in seiner Grundhaltungruhiges Stück mit romantischer Stimmung. Dunkel und brodelnd dagegen beginnt das dritte Stück, «Heilige Johanna». IrèneSchweizer lässt den Rhythmus treiben, löst ihn auf und geht über in überquellende Tonkaskaden, die vorgegebenen Strukturenzerhämmernd. Sie führt schliesslich, als wäre es genug der Derwischtänze, die Musik vorerst in ruhigere Bahnen, um gegen Schluss noch einmal mit wirbelnden und rasenden Läufen, die in wahre Klanggewitter ausbrechen, das Feuer anzufachen. Das Ende kommt fast abrupt, ohne eine eigentliche Auflösung.
Ob all den Referenznamen, die bisher gefallen sind, muss klar unddeutlich gesagt sein, dass es die ZuhörerInnen für keinen Moment mit Kopien oder gar Abkupferungen zu tun haben. Sie hören stets Irène Schweizer und damit eine Musikerin, die sich nie auf Noten abstützt,die vielmehr ständig am Flügel sitzend komponiert, sich nicht mit Wiederholungen ausruht und die immer ein klares Konzept hat. «Bottle»-Programm-Mitverantwortlicher, Jazzkritiker und Liner-Notes-Verfasser John Corbett zitiert in diesem Zusammenhang die Improvisations-Definition des Grossmeisters Duke Ellington: «Improvisieren heisst eigentlich, hier eine Idee aufzugreifen und sie da mit einer anderen Idee zu verbinden, hier den Rhythmus zu wechseln und dort zu pausieren; jeder musikalischen Phrase muss ein Gedanke, ein Konzept vorausgehen, sonst macht sie keinen Sinn.» Genau solche Musik macht die Schweizer Pianokünstlerin auf «Chicago Piano Solo»; ein würdiges und stimmiges Geburtstagsgeschenk.
Dass sie diese grossartigen Soloausflüge zuerst gar nicht veröffentlichen wollte, sich jetzt aber freut, zeugt von ihrer Bescheidenheit. Irène Schweizer gehört nicht zu jenen zahlreichen MusikerInnen, die jede gespielte Note gleich auf CD verewigt sehen wollen. Sie macht jetzt bereits seit rund 42 Jahren aktiv Musik und ist mit 60 immer noch das, was sie bisherausgezeichnet hat: eine Urmusikantin, dabei eine selbstkritischeZweiflerin und Sucherin. Irène Schweizer weiss aber auch, was sie kann Ð sehr, sehr viel.

Geburtstagskonzerte
Irène Schweizers sechzigster Geburtstag wird an drei Anlässen gefeiert. Mit einem Solokonzert eröffnet die Pianistin am Mittwoch, dem 16. Mai, das Schaffhauser Jazzfestival (12.30 Uhr, Museum zu Allerheiligen). Das Schaffhauser Jazzfestival gibt Irène Schweizer eine Carte Blanche für den Donnerstagabend, den 17. Mai. Irène Schweizer lädt den holländischen Schlagzeuger Han Bennink ein für ein Duokonzert. Als zweiter Programmpunkt wird auf Wunsch von Irène Schweizer das Filmporträt über Thelonious Monk, «Straight No Chaser», gezeigt. Am Uncool-Festival in Le Prese tritt Schweizer in drei Formationen auf: mit Les Diaboliques (mit Maggie Nicols und Joëlle Léandre), im Trio mit Pierre Favre und Rüdiger Carl und im Duo mit dem New Yorker Schlagzeuger Andrew Cyrille (24.Ð26. Mai). Am Zürcher Birthday-Concert, am Sonntag, dem 10. Juni, 20 Uhr, im Schauspielhaus (Pfauen) spielt Irène Schweizer im Duo mit Pierre Favre. Gratulationsworte halten die Schriftstellerin Laure Wyss und Josef Estermann. Das Zürcher Birthday-Concert ist eine Koproduktion von Fabrikjazz (Rote Fabrik) und Schauspielhaus.

 

 

 

Nick Liebmann, Neue Zürcher Zeitung, 3. Mai 2001

Keine Frühpensionierung geplant
Irène Schweizers Blick zurück - und nach vorn


Die international bekannte Jazzpianistin Irène Schweizer wird am 2. Juni sechzig Jahre alt. Aus diesem Anlass besuchten wir die Schaffhauserin in ihrer Wohnung im Zürcher Stadtkreis 4, wo sie schon seit 23 Jahren lebt und arbeitet.

Für Irène Schweizer ist der sechzigste Geburtstag kein dramatischer Lebenseinschnitt. Vielmehr ist ihr der Rummel um ihre Person, sind ihr die vielen Interviews und die zahlreichen Geburtstagsanlässe eher unheimlich und anstrengend. Ihre Konzerttätigkeit, ob allein oder mit vertrauten Musikerinnen und Musikern, möchte und muss sie so lange weiterverfolgen wie möglich; an eine Frühpensionierung, sagt sie mit einem Lächeln, denke sie nicht.
Ihr Weg von Ragtime und Dixieland über Souljazz, Cool und Hardbop bis zum radikalen Free Jazz erfolgte graduell, organisch. Den Anstoss zur Befreiung gaben Musiker wie Paul und Carla Bley und Bill Evans, bei dem Irène Schweizer damals, Anfang der sechziger Jahre, erste Zeichen der harmonischen und rhythmischen Auflösung entdeckte. «Wir hatten damals ein Trio, mit dem Schlagzeuger Mani Neumeier und dem Bassisten Uli Trepte. Ich erinnere mich noch genau an eine Probe, an der Mani plötzlich den Beat nicht mehr gespielt hat. Wir schauten uns an und fragten uns: Was haben wir denn jetzt gerade gespielt?», erinnert sich die Pianistin. Free Jazz war damals in Europa noch gar kein Begriff, man experimentierte und wollte neues Terrain erkunden.

Kaputtspielmusik
Wenn Irène Schweizer Aufnahmen von damals hört - Aufnahmen übrigens, die nächstens wieder aufgelegt werden -, dann hört sie Elemente in ihrem Spiel, die sie immer noch verwendet. «Es war schon vieles da vom Spielmaterial, auf das ich heute in meinen Improvisationen zugreife - wobei ich dieses Material heute ganz anders einsetze.»
Damals war Irène Schweizer eine Improvisatorin mit Wut und ungezähmter Energie, heute wirkt ihr Spiel viel sanfter. Diese Entwicklung hält die Pianistin nicht nur für ein Zeitphänomen, sondern spricht auch von einer persönlichen Entwicklung. «Ich habe heute einfach keine Lust mehr, mit den Fäusten auf ein Klavier einzuschlagen; es macht mir keinen Spass mehr, einen Cluster an den anderen zu reihen und immer meine pianistische Technik unter Beweis zu stellen.» Irène Schweizer ist ruhiger und reifer geworden, gelassener, weniger impulsiv und aufbrausend.
Die «Kaputtspielmusik» von damals passe allerdings auch nicht mehr zu unserer Zeit. Damals, in den siebziger Jahren, reflektierte man so über die politischen Ereignisse, glaubte an Revolution, an das Aufheben aller Gesetzmässigkeiten. Man wollte auf Rhythmus und Harmonie verzichten und damit die Welt verändern. Die Anhänger der radikalen deutschen Schule empfanden Dreiklänge als Verrat - Irène Schweizer, die immer wieder ihren Jazz-Background betont, hat sich allerdings schon damals nicht an solche Vorschriften gehalten.
Worüber regt sich Irène Schweizer heute auf? «Über die Beliebigkeit, die Gleichgültigkeit und die Gesichtslosigkeit in Kultur und Politik! Früher war Jazzmusiker eine Berufung. Heute kann jeder, und sei er noch so unmusikalisch, eine Jazzschule besuchen - genauso wie andere eine Schreinerlehre absolvieren oder Grafiker werden können.» Irène Schweizer bleibt eine aufmerksame Beobachterin solcher Entwicklungen, möchte aber nicht mehr mit der Musik gegen Missstände kämpfen. Die Wut und auch ihr Engagement für die Sache der Frau innerhalb und ausserhalb der Musik sind in den Hintergrund getreten - obwohl sie der Meinung ist, es gebe immer noch viel zu wenig Frauen in der Musik. Von Resignation will sie allerdings nichts hören.
Der Jazz-Stadt Zürich erteilt Irène Schweizer heute schlechte Noten. «Das Moods ist kein Jazzklub, sondern ein Musikklub. Die lokale Szene hat Mühe, Auftrittsmöglichkeiten zu finden. Es müsste in Zürich wieder einen Jazzklub geben, wo eine Band zwei oder drei Tage lang auftreten kann. Heute sind in Zürich alles One-Night-Stands». Als Mitinitiantin hat die Pianistin, die schon früher in Zürich Jazzkonzerte mitveranstaltet hat, vor ein paar Jahren die Organisation OHR ins Leben gerufen. «Da kann sich die lokale Szene wenigstens jeden Mittwoch - zum Beispiel im Café Casablanca - präsentieren. Und da gibt es auch immer wieder Neues zu entdecken.»

Jazz-Nostalgie
Mit einem gewissen Wehmut denkt Irène Schweizer an die goldenen Zeiten des Jazz in Zürich, die sie zwischen Ende der sechziger und Ende der siebziger Jahre sieht. «Modern Jazz Zürich im Restaurant Hinterer Sternen beim Bellevue, die Konzerte im Poly Foyer, der Anfang des Bazillus - damals war Aufbruchstimmung in unserer Stadt.»
Irène Schweizer übt selten. Wenn sie übt, dann mit den Partnern, mit denen sie festgelegte Tunes spielt, oder ganz allein an ihrem Flügel Stücke des grossen Thelonious Monk. Dabei entdeckt sie immer wieder neue Wendungen und Phrasen, auf die sie in ihren Konzerten zurückgreifen kann. Ihre Stücke notiert sie grundsätzlich nicht; sie hat alle Themen in ihrem Kopf. Die Titel sind dabei völlig unwichtig und nicht programmatisch zu verstehen. Unerfüllte Träume? «Einer meiner Träume wird leider unerfüllt bleiben. Ich wollte schon immer mit dem Schlagzeuger Billy Higgins im Duo musizieren - leider ist er vor wenigen Wochen verstorben. Aber ein paar Wunschpartner hätte ich da schon noch: den Saxophonisten Steve Lacy, den Perkussionisten Milford Graves und den Posaunisten Rosewell Rudd zum Beispiel.»
Aktuelle CD: Irène Schweizer: Chicago Piano Solo (Intakt/ RecRec). Das Zürcher Birthday-Concert findet am Sonntag, 10. Juni, um 20 Uhr am Schauspielhaus Zürich im Pfauen statt. Irène Schweizer wird im Duo mit ihrem langjährigen Schlagzeugpartner Pierre Favre musizieren, Laure Wyss und Stadtpräsident Josef Estermann werden Gratulationsworte an die Jubilarin richten.

 

 

 

Mainrad Buholzer, Neue Luzerner Zeitung, 2.Mai2001

Die Jazzpianistin Irène Schweizer wird sechzig
«Das Improvisationsrisiko törnt an»


Irène Schweizer hat einen grossen Teil der Jazzgeschichte verarbeitet. Nun ist sie selbst Teil der Jazzgeschichte. Zu ihrem 60. Geburtstag am 2. Juni ein Interview mit der Pianistin.

Irène Schweizer, zurzeit wird noch ein anderer 60. Geburtstag gefeiert, jener Bob Dylans. Haben Sie eine Beziehung zu ihm?

Irène Schweizer: Ja, sehr. Ich habe in den Sechzigerjahren alle seine Platten gekauft. Seine Texte haben mich fasziniert, aber auch seine Musik. Ich fands einfach gut. Wie auch Frank Zappa. Die Beatles und die Rolling Stones habe ich weniger gehört. Aber Dylan war für mich auch musikalisch wichtig.

Gibt es da auch einen Bezug zum Jazz?

Schweizer: Ja, vor allem durch den Blues. Gerade auch seine Band, The Band, war eine fantastische Gruppe. Die spielte sehr jazzig, sehr schwarz. Auch der Free Jazz kam ja zur gleichen Zeit auf? Schweizer: Klar, mit Archie Shepp, Ornette Coleman, mit dieser Oktoberrevolution in New York, bei der Paul Bley dabei war, John Tchicai, Cecil Taylor. Das war eine sehr wichtige Zeit. Ich glaube sowieso, dass es seit den Sechzigerjahren nie mehr gleichzeitig so viel gute und verschiedene Musik gab. Die sind einfach unschlagbar. Auch in der Popmusik, die damals von England kam, dann Janis Joplin, Aretha Franklin, die Soul-Music mit Otis Redding, Wilson Pickett, Stevie Wonder und so weiter. Das war eine richtige Flut und alles sehr gut. Heute muss man ja lange warten, bis wieder etwas kommt, das einen überhaupt interessiert.

Was bedeutet Ihnen Free Jazz im Rückblick?

Schweizer: Ich habe den Free Jazz in seiner Hochblüte erlebt, in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Ich möchte ihn nicht missen. Ich habe sehr viel gelernt und sehr viel Kraft geschöpft in dieser Zeit. Die war sehr wichtig für mich. Heute finden viele den klassischen Free Jazz antiquiert. Fragt sich nur, ob Gruppen, die postmodernes Zeug spielen oder Standards aus den Fünfzigerjahren, nicht auch antiquiert tönen. Etwas eigentlich Neues gibt es ja seit zehn Jahren nicht mehr. Ich war auch nie eine radikale Free-Musikerin. Reines Powerplay, nur energetisch, das habe ich nie gemacht. Ich habe meinen Background mit den jazzigen Elementen, mit denen ich aufgewachsen bin. Das hört man heute immer noch.

Aber man spielt ja heute, dank dem Free Jazz, auch die traditionellen Elemente ganz anders?

Schweizer: Klar, ganz genau. Es war sehr wichtig, dass es eine Periode gab, in der man alles über Bord warf, die ganze Harmonik, die Rhythmik. Man machte sauberen Tisch. Jetzt kann man es wieder hervorholen und anders umgehen damit.

W as ist für Sie das Wesentliche des Jazz?


Schweizer: Es gibt Verschiedenes, aber für mich ist es das Rhythmische. Und der Swing; das tönt vielleicht blöd, man wird dann immer den Jazzpuristen zugeordnet. Aber diese bestimmte Art von Swing und Puls, die gibt es in keiner anderen Musik.

Improvisieren, das ist immer auch Risiko?


Schweizer: Ja, das reine Improvisieren ist immer ein Risiko. Mit Han Bennink zum Beispiel. Wir vertrauen einander, machen nichts ab, gehen zusammen auf die Bühne, einer fängt an, aber wir wissen weiter nichts. Da müssen beide natürlich in der richtigen Stimmung sein, dann läuft es gut. Es kann aber auch sein, dass einer mal nicht so auf dem Damm ist, nicht so viel Ideen und Punch hat. Dass es ganz in die Hosen gehen würde, glaube ich zwar nicht, dafür haben wir beide zu viel Erfahrung.

Ist dieses Risiko eine Belastung für Sie?


Schweizer: Nein, aber eine Art Anspannung. Keine Belastung, im Gegenteil, es törnt mich an. Wenn da eine Gruppe einfach ein Programm einübt und das dann spielt im Konzert Ð sie wissen genau, wie sie anfangen und so weiter Ð, das langweilt mich tödlich. Ich brauche das Risiko als Kick; obwohl ich zwischendurch auch wieder feste Stücke spiele. Mit Pierre Favre zum Beispiel, wir gehören zur gleichen Generation, haben den gleichen Background, kennen die Geschichte des Jazz. Da kann ich irgendetwas antönen und er weiss Bescheid. So macht es Spass, Musik zu spielen. Dann wird das wirklich ein Dialog auf gleicher Ebene.

Üben Sie viel?


Schweizer: Es kommt drauf an, mit wem. Es gibt Leute, mit denen ich sehr viel übe, mit andern wenig. Aber allein am Klavier übe ich eher wenig. Mir ist auch die Technik immer weniger wichtig. Mir ist anderes, das man nicht üben kann, wichtiger geworden. Man kann nicht Ideen üben oder das Geschichtenerzählen.

Und zu viel Technik verhindert das Geschichtenerzählen
?

Schweizer: Ja.

Was macht das Schlagzeug?


Schweizer: Das wird etwas vernachlässigt, leider. Ich habe zu wenig Möglichkeiten, es zu spielen.

Ist das Schlagzeug für Sie eher eine Ausweitung des Klaviers, oder schafft es eher Distanz zum Klavier?


Schweizer: Eher Distanz als Ausweitung. Ich habe ja praktisch gleichzeitig begonnen mit dem Klavier und dem Schlagzeug, habe eigentlich immer parallel gespielt. Man sagt mir ja auch, dass ich das Klavier sehr perkussiv spiele. Das stimmt schon, das ist mir auch wichtig. Man hört die Verwandtschaft mit dem Schlagzeug.

Ende der Achtzigerjahre haben Sie mal den Wunsch geäussert, sechs Duo-CDs zu machen. Dieses Ziel haben Sie fast erreicht.


Schweizer: Ja, eine ist noch offen. Ich habe letztes Jahr mit Paul Lovens gespielt. Das könnte die sechste Duo- CD sein. Aber entschieden ist noch nichts.

Ihre neuste Solo-CD ist eine Aufnahme aus einem Klub in Chicago. Sie waren offenbar zuerst nicht begeistert von der Idee dieser CD?


Schweizer: Das war ein Konzert in einem Klub. Ich habe es nicht für eine CD gespielt. Aber das wurde aufgenommen, und ich kam mit der Aufnahme zurück in die Schweiz. Ich gab es Intakt zum Hören, wollte aber nicht eine CD machen. Dort fand man es toll. Ich war zuerst gar nicht begeistert. Aber sie wollten auch etwas zu meinem 60. Geburtstag machen, meinten, es sei eigentlich wieder Zeit für eine Solo-CD, die Letzte liegt ja auch schon wieder fünf Jahre zurück. Und da fragte sich, wie treibt man so schnell eine Solo-CD auf. Wir habens dann auch ein bisschen gekürzt und umgestellt. Jetzt finde ich es okay.


Irène SCHWEIZER Eine führende Free-Jazz-Pianistin

Die Pianistin Irène Schweizer feiert am 2. Juni ihren 60. Geburtstag. Sie ist in Schaffhausen aufgewachsen, begann mit zwölf Jahren zu spielen. In den Sechzigerjahren zog sie nach Zürich und bildete mit Mani Neumeier und Uli Trepte ihr erstes Trio. Prägend war für sie die Begegnung mit dem südafrikanischen Pianisten Dollar Brand (heute Abdullah Ibrahim) und mit dem Free Jazz; beide Einflüsse sind heute noch hörbar in ihrem Spiel. Schweizer gehörte bald zu den wichtigsten Vertretern des Free Jazz Ð und später des Feminismus Ð in der Schweiz. Unverwechselbar ist, wie sie die Tradition des Jazz unangestrengt, aber sehr eigenwillig in ihr Spiel einfliessen lässt. Ihre neuste CD ist eine Solo-Live-Aufnahme aus Chicago (Chicago Piano Solo, Intakt/RecRec). Im Schauspielhaus Zürich findet am 10. Juni (20 Uhr) ein Birthday-Concert statt. Irène Schweizer spielt mit Pierre Favre; Laure Wyss und Zürichs Stadtpräsident Josef Estermann ehren die Pianistin in Worten.

 

 

 

Sandro Stoll, Schaffhauser Nachrichten, 17. Mai, 2001

Fulminantes Plädoyer für die Neugier

«Ein Fest auch für Irène» soll das Jazzfestival sien. Die Pianistin kerhte das Motto um: Sie sorgte für ein Fest für die Zuhörer:


Irène Schweizer ist mehr als Schaffhausens berühmteste Musikerin. Als Pianistin und Komponistin gehört sie zu den anerkanntesten Musikerinnen des auropäischen Freejazz und der frei improvisierten Musik überhaupt. Kein Wunder also, dass das grosse Publikum, das sich gestern über Mittag im Oberlichtsaal des Museums zu Allerheiligen einfand, bunt gemischt war: Politiker waren zu sehen, Kulturschaffende, Gewerbetreibende, Manager, Medienvertreter – darunter manche, die dem Dialekt nach einen weiten Weg hinter sich hatten.

Die Einleitung zu diesem besonderen «Lunchgespräch», das zugleich den Auftackt zum 12. Schaffhauser Jazzfestival darstellte, war wohltuend kurz und kompetent. Patrik Landolt, der wohl profundeste Kenner von Irène Schweizer, übernahm die Aufgabe, ins Werk der Musikerin, die am 2. Juni ihren 60. Geburtstag feiert, einzuführen.

Ringen um Autonomie
Wie alle bedeutende Kunst sei Schweizers Musik «aus dem Ringen um Autonomie entstanden», meinte Landolt, der Irène Schweizer als Journalist und Herausgeber ihrer Platten über 20 Jahre lang begleitet hat. Resultat ihrer kompromisslosen Arbeit sei ein Werk, das «zugleich erinnernd und innovativ» sei, ein Werk auch, das wegen des Interesses der Künstlerin an gesellschaftlichen Veränderungen «seismografische Qualitäten» habe.

Seismografisch nicht besonders begabt musste man in der Folge als Zuhörer sein, um die nach wie vor ungebrochene Energie der Pianistin Irène Schwezer zu entdecken. Kraftvoll konzentriert, dunkel-perkussiv machte sich die Pianistin, die das «europäische Instrument afrikanisiert hat» (Ulrich Stock in der «Zeit»), ans Werk. Elegant variierte sie die Intensität, leicht wechselte sie Rhythmen und Stimmung und hielt dabei doch scheinbar mühelos Zusammenhalt und Spannung ihrer Improvisationen. Drei Stücke bot sie dem Publikum, Material der eben erschienenen CD «Chicago Piano Solo». Zum Schluss ein Blues dann ein langer, warmer Applaus.

Rausgehen, zuhören
Die Reihe war jetzt an Stadtrat Thomas Feurer. Ein Satz, erklärte Feurer in siener Rede, sei ihm während seinen Recherchen über die Künstlerin Irène Schweizer hängen geblieben: «Go out and listen» – Irène Schweizers Aufforderung an junge Musiker, so viel Musik wie möglich zu hören, am besten hautnah, «live», und möglichst überall. «Go out and listen» – der Rat, neugierig zu seinund sich auf Unbekanntes einzulassen – ist auch ein gutes Motto fürs 12. Schaffhauser Jazzfestival, das bis am frühen Sonntagmorgen noch drei weitere Nächte voller Musik und Experimente bietet.

 

 

 

Tom Gsteiger, Bund, 23. Mai, 2001

Die Wonnen der Unabhängigkeit

JAZZ / Eine kraftvolle Poetin des freien Jazz ist Irène Schweizer, die am 2. Juni ihren 60. Geburtstag feiert: Auf ihrem neuen Soloalbum «Chicago Piano Solo» spannt die unerschrockene Pianistin einen weiten Bogen von erdigen Melodiefetzen zu verspielter Abstraktion
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Ihre Bewunderung gilt nicht den gewieften Alleskönnern, die die Geschichte des Jazz vor- und rückwärts buchstabieren können, sondern kauzigen Eigenbrötlern und hellwachen Träumern wie Thelonious Monk, Misha Mengelberg, Don Cherry oder Ed Blackwell. Da kann es nicht verwundern, dass die Pianistin Irène Schweizer, die am 2. Juni ihren 60. Geburtstag feiert, den Jazzschulen mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnet: «Heute muss ich schon staunen, wie schnell die Jugen lernen, aber mir fehlt dann halt auch etwas, wenn sie spielen, es ist oftmals oberflächlich.»
Schweizer, die in ihren Anfängen Boogie-Woogie, Blues, Ragtime und Hardbop gespielt hat und in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre zur Pioniergeneration des europäischen Free Jazz stiess, hat sich ihr facettenreiches Vokabular weitgehend autodidaktisch angeeignet. Das war ein langer, machnmal beschwerlicher Weg des Anhörens und Ausprobierens, der sich allerdings gelohnt hat. Was Schweizer spielt, hat Hand und Fuss, trägt auch dort eine persönliche Handschrift, wo sie deutliche Anleihen bei Vorbildern wie Monk oder Dollar Brand macht, und verliert auch dann nichts von seiner lustvollen Dringlichkeit, wenn die Pianistin zu experimentellen Klangerkundungen im Innern des Flügels aufbricht. Schweizer ist keine, die ihr Werk bis in alle Verästelungen hinein analysiert, keine abgehobene Theoretikerin, sondern eine unbekümmerte Pragmatikerin. Das heisst nun nicht, dass sie einfach wild drauflos spielt, wohl aber, dass sie bereit ist, ihren konzisen Gestaltungswillen zu suspendieren, um sich vom Moment mitreissen zu lassen.

Zu zweit und zu dritt
Dies wird besonders deutlich, wenn sie sich als vorurteilsfreie Interaktionistin betätigt. Eine Spezialität von Schweizer sind Duos mit Schlagzeugern (zuweilen setzt sie sich selber gerne ans Schlagzeug, dem sie zwar beseelt, aber auch reichlich amateurhaft zu Leibe rückt). Dem Label Intakt verdanken wir Live-Aufnahmen aus den Jahren 1986 bis 1995, auf denen sie mit Louis Moholo, Günter Sommer, Andrew Cyrille, Pierre Favre und Han Bennink zu hören ist. Auf diesen Alben begeistert Schweizer mit Einfühlungsvermögen, Einfallsreichtum und Kraft - dem Powerplay mit dem enorm physisch trommelnden Moholo zeigt sie sich ebenso gewachsen wie den Traumtänzereien mit dem verspielten Tüftler Sommer.
Eine wichtige Konstante in Schweizers Leben ist ihr feministisches Engagement, sie gehörte zu den Geburtshelferinnen der Feminist Improvising Group und der Europaen Women Improvising Group. Diese internationalen Netzwerke haben wichtige Kontakte ermöglicht. Als künstlerisch besonders ergiebiges Resultat dieser Frauensolidarität darf Schweizers Zusammenarbeit mit der englischen Vokalistin Maggie Nicols und der französischen Kontrabassistin Joëlle Léandere im Trio Les Diaboliques gelten. Das freche und aufmüpfige Schaffen dieser Gruppe ist mit drei Intakt-Alben ebenfalls recht gut dokumentiert.

Anstrengendes Single-Dasein
Abgerundet wird die sorgfältige Pflege, die das unabhängige Label Intakt der Pianistin seit über einem Jahrzehnt angedeihen lässt, durch eine Reihe vorzüglicher Solo-Produktionen. «Piano Solo Vol. 1 und 2» und «Many And One Direction» wurden 1990 bzw. 1996 bei Auftritten in der Alten Kirche Boswil aufgenommen, für kommenden Sommer ist die Re-Edition der legendären Scheiben «Wilde Senoritas» und «Hexensabatt» aus den Siebzigerjahren angekündigt und soeben ist «Chicago Piano Solo» erschienen.
Auf diesem Konzertmitschnitt vom Februar 2000 lässt Schweizer durch ihre zupackende Herangehensweise die nicht über jeden Zweifel erhabene Qualität des Flügels im Nu vergessen. Einmal mehr erweist sich Schweizerin als Meisterin des Selbstgesprächs, sie verfügt über die nötige Konzentration, um im freien Flug der Ideen nicht den roten Faden zu verlieren, aber bleibt gleichzeitig locker genug, um nicht pedantisch zu wirken - ihr gelingt als der Brückenschlag zwischen Konstruktion und Intuition. In ihren atmosphärisch dichten «Instant Compositions» geht sie der Gefahr der Verzettelung aus dem Weg, indem sie sich jeweils auf ein klar eingegrenztes Sortiment ihrer Qualitäten fokussiert. Zusätzlich aufgelockert wird das abwechslungsreiche und kurzweilige Album durch Schweizers Interpretation eines Stücks des 1995 verstorbenen Don Cherry, mit dem sie die Fähigkeit zur eigenständigen Assimilation unterschiedlichster Stile teilt.

Geburtstagsfeierlichkeiten
Über Auffahrt Vom 24. bis 26. Mai tritt Irène Schweizer mit drei verschiedenen Formationen am Uncool Festival in Le Prese am Lago di Poschiavo auf, nämlich im Duo mit Andrew Cyrille, im Trio mit Pierre Favre und Rüdiger Carl und mit Les Diaboliques (mehr Infos unter www.uncool.ch oder Telefon 081 844 05 71). Am 1. Juni wird Schweizer auf Radio DRS 2 mit drei Sendungen gewürdigt. Um 11 Uhr gibts ein Interview mit ihr in der Sendung Reflexe (Wiederholung um 22 Uhr). Am Abend folgen ein Mitschnitt vom diesjährigen Jazzfestival Schaffhausen, wo ein Duo mit Han Bennink auf dem Programm stand (22.30 Uhr) und die Präsentation des Albums «The Storming Of The Winter Palace» (23.30 Uhr). Das offizielle Geburtstagskonzert findet am 10. Juni im Schauspielhaus Zürich statt. Schweizer wird mit ihrem langjährigen Weggefährten Favre konzertieren (Vorverkauf: Telefon 01 265 58 58).

 

 

 

Christian Rentsch, Tages-Anzeiger, 8. Juni 2001

Wilde Señorita spielt Hexensabbat
Am 2. Juni ist Irène Schweizer, die weltweit renommierteste Pianistin der europäischen Free-Szene, 60 geworden. Am Sonntag gibt sie ein Geburtstagskonzert.


Seit vielen Jahren spielt sie Monk. "Aber eigentlich nur für mich allein", korrigiert sie, "erst in den letzten paar Jahren wage ich, Stücke von Monk auch in den Konzerten zu spielen." Überraschend, wenn jemand wie Irène Schweizer das sagt, weltweit eine der besten Pianistinnen zwischen Freejazz und frei improvisierter Musik, doch auch eine, die nicht kokett auf falsche Bescheidenheit macht. Aber Irène Schweizer spielt eben nicht Monk-Stücke, sie hat sich Monk angeeignet, ihn durch eigene Erfahrungen analysiert, nicht bloss die berühmten Melodien, sondern sein Ringen um den Klang.
Das hört man, wenn Irène Schweizer Monk spielt: Dass sie seine Klangsprache kennt, seine Phrasierungen und seine haarsträubenden Melodiekonstruktionen; und zugleich ist sie immer ganz sich selbst, mit ihrer ganzen 40-jährigen Spielerfahrung, dem Freejazz der 70er-Jahre, mit Frauenmusik der 80er- und der frei improvisierten Musik der 90er-Jahre. Irène Schweizer gehört zu den ganz wenigen, die der Musik von Thelonious Monk wirklich eine Facette abgewinnen und hinzufügen.

Am Anfang war Dixieland
Als Jazzmusikerin wird man nicht geboren, schon gar nicht im Schaffhausen jener Jahre. Dixieland war noch das Beste, was Irène Schweizer im Saal des Restaurants "Landhaus", das ihre Eltern führten, zu hören bekam. Als Autodidaktin begann sie Klavier zu spielen, imitierte die Boogie-Woogie- und Ragtime-Figuren, die sie aufschnappte.
Die eigenen Klavierstunden schienen keine bleibende Wirkung hinterlassen zu haben, Irène Schweizer blieb eine Autodidaktin. Sie nahm die Mühen auf sich, eine Sache selber zu ergründen, anstatt sie schnell auswendig zu lernen und dann wieder zu vergessen. Auch das hört man: Dass Irène Schweizer zu den Dingen, die sie sich angeeignet hat, ein völlig eigenes, liebevoll kritisches Verhältnis hat, dass der Kampf um die Aneignung seine Spuren hinterlassen hat.
Als Irène Schweizer 1959 mit den Modern Preachers am Amateur Jazz Festival Zürich auftrat, hatte sie sich grad knapp den Hardbop angeeignet, viel anders als bei Junior Mance und Horace Silver klang das nicht. Mit 20 ging die gelernte Sekretärin nach England und landete irgendwann in London, im "Ronnie Scott's Club", dem legendären Jazzclub, wo damals neben den grossen amerikanischen Namen vor allem die englische Modernjazz-Szene zu hören war. Hier lernte sie englische Musiker kennen, gelegentlich spielte sie mit den Saxofonisten Dick Morissey und Joe Harriott.
1962 kehrte sie in die Schweiz zurück, das war gleichsam der Anfang der Eigenständigkeit. Mit dem Bassisten Uli Trepté und dem Schlagzeuger Mani Neumeier, bildete sie ein Trio. Und dann geschah es einfach, gleichsam die Geburt des Schweizer Freejazz: "Während einer Probe merkten wir, dass wir alle drei eigentlich viel lieber frei spielen würden, jenseits der konventionellen Harmonieschemen von Bebop und Hardbop, mit aufgelösten Rhythmen." Aber sicher lag der Ausbruch aus dem Gefängnis der Funktionsharmonik auch in der Luft.
Allerdings: In der Zürcher Jazzszene wurde der Streit zwischen Modern- und Freejazz als eine Art Glaubenskrieg ausgetragen. Das Zentrum des Streits war das legendäre "Africana", die düstere, kleine Jazzhöhle; hier gab es neben viel Schweizer Swing und Mainstream und dem urigen Blues-Pianisten Champion Jack Dupree auch hin und wieder Musiker der neuen englischen Szene zu hören, die Exil-Südafrikaner Chris McGregor, Johnny Dyani und Louis Moholo. Und Dollar Brand, dessen melancholische Sehnsuchts für Irène Schweizer zu einer Art Eintrittspforte zum Freejazz wurde.
Und dann kam, 1966, der definitive Kick: In Stuttgart hörte Irène Schweizer den Pianisten Cecil Taylor, eine der grossen Vaterfiguren des schwarzen Freejazz. Er war schon dort angekommen, wo Irène Schweizer erst hinwollte. "Ich war derart beeindruckt, dass ich ernsthaft darüber nachdachte, mit dem Klavierspielen aufzuhören." Aber dann hat sie es sich doch anders überlegt. "Early Tapes", eine Aufnahme des Irène-Schweizer-Trios aus dem Jahr 1967, zeigt die Pianistin unterwegs nach Anderswo, aber noch nicht ganz angekommen. Eine Musik, die ein bisschen nach Dollar Brand und Chris McGregor, ein bisschen nach Cecil Taylor klingt. Und ein bisschen auch schon nach Irène Schweizer. Aber es wäre gelogen zu behaupten, dass Irène Schweizer damals in Zürich viel mehr als ein paar Dutzend begeisterter Zuhörerinnen und Zuhörer hatte.

Uneigennützig engagiert

Als das "Africana" zuerst verkam, dann seine Pforten schloss, spielte Irène Schweizer hin und wieder in der "Platte 27", einem Club in einem Abbruchhaus an der Plattenstrasse. Zusammen mit Remo Rau initiierte sie die Musikerkooperative Modern Jazz Zürich, welche während Jahren im "Hinteren Sternen" Konzerte organisierte. Das übrigens hat sie bis heute beibehalten, ihr uneigennütziges Engagement für eine lebendige, vielfältige Zürcher Jazzszene: Sie gehörte, was ihr von Seiten des Jazzpublizisten Peter Rüedi den ehrenvollen Titel einer "Mutter Courage der Schweizer Free-Szene" einbrachte, Ende der 70er-Jahre zu den Mitbegründerinnen der Werkstatt für improvisierte Musik (WIM), Anfang der 80er-Jahre zu den Initiantinnen der Fabrikjazz-Gruppe, des taktlos-Festivals, des Zürcher Intakt-Labels, Ende der 90er-Jahre der Konzertreihen im Café "Casablanca" und "Karl dem Grossen". Für Irène Schweizer immer auch eine Gelegenheit, den Kontakt mit jüngeren Schweizer Musikern zu halten, mit ihnen zusammen zu arbeiten und aufzutreten, mit der Saxofonistin Co Streiff etwa, dem Saxofonisten Omri Ziegele, der Sängerin Dorothea Schürch und vielen anderen.
Dennoch blieb die Schweiz für die Schweizer bis Mitte der 70er-Jahre ein hartes Pflaster. Ihre ersten grossen internationalen Erfolge buchte sie in Deutschland, an Joachim Ernst Berendts Berliner Jazztagen 1967, im gleichen Jahr mit einem "Jazz meets India"-Programm an den Donaueschinger Musiktagen, an den "Total Music Meetings" im Berliner "Quartier Latin". Da standen die deutschen Freejazzer wie deutsche Eichen auf der Bühne, die geschwellte Brust notdürftig von roten Hosenträgern zusammengehalten. Und dazwischen Irène Schweizer, kräftemässig und musikalisch den deutschen Eichen durchaus ebenbürtig.
Überhaupt: Mit starken Männern hatte sie, die Feministin, nie ihre Probleme. Während sie Anfang der 80er-Jahre mit der Feminist Improvising Group, mit der Bassistin Joëlle Léandre, der Sängerin Maggie Nicols, der Fagottistin Lindsay Cooper und anderen, den Schritt vom Freejazz zur europäischen frei improvisierten Musik probte, nahm sie eine Reihe von Platten mit starken Männern auf, mit dem deutschen Klarinettisten und Saxofonisten Rüdiger Carl, dem englischen Saxofonisten Evan Parker, dem Bassisten Peter Kowald. Und in den 80er- und 90er-Jahren mit einer langen Reihe grossartiger Duo-Aufnahmen mit verschiedenen Schlagzeugern, dem unberechenbaren Emotionshaufen Louis Moholo, dem Gaukler Günter Sommer, dem Intellektuellen Andrew Cyrille, dem Clown Han Bennink und, immer wieder, mit dem Philosophen unter den Schlagzeugern, mit Pierre Favre.

Unverwechselbar
Neben diesen Duo-Aufnahmen und der umwerfenden Komposition "Theoria" aus dem Jahr 1991, welche der britische Komponist Barry Guy für sie und das London Jazz Composers' Orchestra schrieb, gehören aber vor allem ihre Solo-Einspielungen zum Besten, was es von Irène Schweizer zu hören gibt, von "Wilde Señorita" (1976) und "Hexensabbat" (1977) bis hin zu den "Piano Solos" aus dem Jahr 1991, "Many And One Direction" (1996) und zum eben erschienenen Konzertmitschnitt "Chicago Piano Solo". Da ist alles drin, was ihre unverwechselbare Spielweise ausmacht: diese grossartige Mischung von Kraft und Weichheit, von dichter, hoch energetischer Musik und Klangfarbenspiel, von hoch virtuoser Pianistik und verspielten Aktionen im Innern des Flügels, kristalline Formen, Schnitte, Brüche einerseits und aufbrechende, explosive Clusterbögen. Und immer wieder Anklänge an Thelonious Monk. Irène Schweizer, angekommen auf ihrem Weg nach Anderswo.
Birthday Concert mit Pierre Favre im Zürcher Schauspielhaus, Sonntag 20 Uhr.



 

Nickl Liebmann, Neue Zürcher Zeitung, 12. Juni 2001

Irène swingt

Birthday Concert von Irène Schweizer

Swing City Zurich nennt sich ein bevorstehendes Festival an der Limmatstadt. Auch wenn die Wahlzürcherin Irène Schweizer mit dem Jazzstil, der sich Swing nennt, kaum etwas am Hut hat, mutiert sie je länger, je mehr zur «Swingerin». An ihrem Geburtstagskonzert hat die sechzigjährige Pianistin wenig freie Musik gespielt, dafür umso mehr vital swingende Stücke von Thelonious Monk, Paul Bley und Jimmy Giuffre interpretiert.

Das grösste Geburtstagsgeschenk für die inzwischen weltbekannte Musikerin aus Schaffhausen dürfte der Publikumsaufmarsch gewesen sein. Das Schauspielhaus war restlos ausverkauft, unter den Anwesenden waren nicht wenige Persönlichkeiten, die man in einschlägigen Zirkeln bisher kaum ausgemacht hat. Stadtpräsident Josef Estermann charakterisierte Irène Schweizer als eine, die ohne Noten Musikgeschichte geschrieben hat. Den im Zusammenhang mit der Jubilarin oft verwendeten Ausdruck «First Lady of Jazz» relativierte er - sie sei nicht die Erste, sondern einzig. Die Schriftstellerin Laure Wyss zollte der Musikerin, die «spielend zum Weltformat erstrahlt» sei, sogar ein noch grösseres Lob: «Ihre Töne bringen mir Worte.» Zürich sei reicher und urbaner, weil Irène Schweizer hier wohne.

Seit dreissig Jahren musiziert Irène Schweizer mit einem anderen Wahlzürcher, dem am gleichen Tag (aber nicht im gleichen Jahr) in Le Locle geborenen Schlagzeuger Pierre Favre. So war der einfühlsame Schlagwerker als Duopartner für das «Zürcher Birthday Concert» geradezu prädestiniert. Während die freien Passagen auf sublimste Weise faszinierten, die gegenseitige Telepathie und die damit verbundene Präzision oft den Atem stocken liessen, spürte man gleichzeitig eine gewisse Entfremdung. Während nämlich die Pianistin immer mehr zum swingenden Time-Spiel zurückfindet und sich längst nicht mehr scheut, über bekannte Jazz-Tunes zu improvisieren, erscheint das metrische Spiel für den Schlagzeuger zu beengend. Favre, der jahrelang als Schlagzeuger traditionelle Big Bands (wie die DRS-Band oder Max Gregers Orchester) antrieb, scheint sich in diesem Idiom nicht mehr wohl zu fühlen. Solche Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlichen Entwicklungen tragen zur Faszination einer Musik bei, in der intelligenter Diskurs als Tugend gilt. Hier hat Irène Schweizer Wesentliches geleistet.
Schauspielhaus am Pfauen, 10. Juni.

 

 

 

Blick, 12. Juni 2001

Zürich feierte Irène Schweizer

Zürich - Mit einer rauschenden Party wurde am Sonntag der 60. Geburtstag der grossen Jazzpianistin Irène Schweizer (Bild) gefeiert. «Irène Schweizer hat Musikgeschichte geschrieben», sagte Stadtpräsident Josef Estermann (53) im Zürcher Schauspielhaus. Die eigentliche Geburtstagsrede hielt die Schriftstellerin Laure Wyss (88). Irène Schweizer bedankte sich mit einem einstündigen Duokonzert, zu dem sie den Schweizer Schlagzeuger Pierre Favre (63) geladen hatte

 

 

Urs Burderer. Berner Zeitung, 12. Juni 2001

Irène Schweizers Geburtstagskonzert

Freiheit, gemischt mit Kontrolle

In einer Stunde zeigte sie die Summe ihres Schaffens: Mit einem sehr souveränen Auftritt im Zürcher Schauspielhaus feierte Irène Schweizer, die Pionierin des Schweizer Free Jazz, ihren 60. Geburtstag.

Es war ein grosser Geburtstag und eine geheime Galanacht des Schweizer Jazz. 600 Leute fanden am Sonntag den Weg ins ausverkaufte Schauspielhaus Zürich, wo die Pianistin Irène Schweizer, die vor einer Woche 60 Jahre alt wurde, im Duo mit dem Schlagzeuger Pierre Favre auftrat. Was Anlässe dieser Art sonst so unsympathisch macht, fehlte: das wirklichkeitsverfremdende Fernsehen, die Ersetzung des Inhalts durch Blabla und die grinsenden Gratiscüpliträger.

Obschon, Reden wurden schon gehalten. Der Zürcher Stadtpräsident Josef Estermann und die Schriftstellerin Laure Wyss lasen ihre Gratulationsworte auf die Meisterin der freien Improvisation ab und erwiesen sich damit nicht als Meister der freien Rede. Doch ihr Lob war aufrichtig. Immer schon habe Irène Schweizer alles selber verstehen wollen, sagte Estermann. Sie habe sich durch- und freigespielt zur improvisierten Musik. Der Titel «First Lady des europäischen Free Jazz» sei unpassend, weil sie nicht die erste sei, sondern die einzige.

Laure Wyss bezeichnete die Pianistin als geheime Förderin ihrer eigenen Produktion: «Ihre Töne bringen mir Worte.» Schweizers Qualitäten seien echtes Handwerk, hohe Konzentration, Unerbittlichkeit. Zürich sei eine reichere, urbanere Stadt, weil die gebürtige Schaffhauserin hier wohne, sich hier anfassen und auch in Gespräche ziehen lasse, etwa über Feminismus. Und dann beschrieb sie die Veränderung der Musikerin: Bescheiden, fast ein bisschen grau wirke sie vor ihrem Auftritt, doch beim Spielen werde aus ihr eine Musikerin, die zu Weltformat erstrahle.

Geburtstagskinder im Duo
Als Schweizer und Favre die Bühne betraten, fing das Publikum (vor allem das weibliche) an zu singen: «Happy Birthday to You.» Worauf die Gemeinte verriet, dass sie Pierre Favre nicht nur deshalb zu diesem Konzert eingeladen habe, weil er seit dreissig Jahren und damit ihr ältester musikalischer Partner sei, sondern auch, weil er am selben Tag Geburtstag habe wie sie.

Und nach so viel rührender Seligkeit geschah, was Laure Wyss vorausgesagt hatte. Zwei, drei kristallklare pianistische Tupfer von ihr, ein Beckensausen von ihm, und schon hatten die beiden im blinden Flug zueinander gefunden. Eindrücklich, wie viel Nähe sie im improvisierten Spiel aushielten, ohne einander eng zu machen. Irène Schweizer hatte die Zügel fest in der Hand. Sie schien genau zu wissen, wo sie hin wollte, nur den Weg dorthin entdeckte sie jeweils neu. Wo die Grenze zwischen frei und komponiert verlief, war kaum je zu sagen, obwohl die Pianistin stets sehr klar und transparent spielte. Das Zögern, Suchen findet bei ihr nicht mehr auf der Bühne statt.

Das Piano als Schlagzeug
Das Duo kam ohne Mikrofon aus. Das geht, wenn einer wie Favre am Schlagzeug sitzt, der so sehr auf den Klang seines Instruments hört. Er gehört auch zu den Wenigen seiner Zunft, die mit einem weit über das Notwendige hinaus bestückten Drumset umzugehen wissen.

Cecil Taylor soll einmal gesagt haben, man könne das Klavier auch als 88-teiliges Schlagzeug spielen. In den Augen Irène Schweizers ist das natürlich eine Untertreibung: Für eine Nummer griff sie, die gelegentlich auch als Schlagzeugerin auftritt, zu einem Paar Schlegel und traktierte für einen irrwitzigen perkussiven Dialog nicht nur die Tasten, sondern auch die Saiten, den Deckel und die Wände des Flügels. In wenig mehr als einer Stunde zog die Pionierin des Free Jazz in der Schweiz eine Summe ihres Schaffens: Nirgends ein Anflug von Exzess oder Experiment. Von den Freiheiten der Form und der Technik ist übriggeblieben, was vor dem abgeklärten Altersurteil noch musikalischen Sinn macht, und das war an diesem Abend eine einzigartige Mischung von sehr viel Freiheit und sehr viel Kontrolle. Kurz: Es war ein grosser, souveräner Auftritt.