INTAKT RECORDS – LABEL PORTRAIT

Jazzpodium, Stuttgart, November 2005



IVom Jazz in Zürich und Intakt über Taktlos und die Rote Fabrik nach Schaffhausen
Blick in die Szene der Schweiz

Von Hans-Jürgen Osterhausen


Gerade die kleinen Länder sind es oft, die in den letzten Jahrzehnten im Jazz und der Improvisierten Musik auf sich aufmerksam gemacht haben und immer wieder machen. So stehen die Niederlande, Belgien, Dänemark und vor allem die Schweiz mit ihren großartigen Musikern, Festivals und CD-Produktionen den Großen in nichts nach.
Es lohnt sich allemal, einmal einen eingehenderen Blick in diese besonderen Szenen zu werfen. Los geht es mit der Schweiz.
Schon in den 20er und 30er Jahren nahm die Alpenrepublik sehr intensiv an dem in Europa aufblühenden Jazzgeschehen teil, war Schauplatz von Besuchen der amerikanischen Stars in den Großstädten, aber auch in den mondänen Kurorten, in denen die Internationale Welt ein und aus ging. Namen wie Hazy Osterwald oder Eddie Brunner sind in die Swingwelt eingegangen.
An allen weiteren Entwicklungen hatte das kleine Land, das seit langem über eine reiche Kulturszene verfügt, immer seinen eigenen Anteil, mit besonderen Musikerpersönlichkeiten. Auch die Festivals in Willisau, Zürich (Taktlos und Unerhört), Basel, Genf, Luzern und seit etlichen Jahren auch Schaffhausen mit der Parade der eigenen Szene sind ein nachhaltiger Beleg dafür. In den letzten Monaten häuften sich Ereignisse, die für die Schweizer Szene besondere Akzente setzte.
So erschien eine Doppel-CD-Dokumentation des „Jazz in Zürich“, bei Intakt im Auftrag des Zürcher Stadtpräsidenten Elmar Ledergerber, die durch die verschiedenen Entwicklungen des Jazz in Zürich, und damit in der Schweiz, führt. Namen wie Eddie Brunner, Hans Kennel, Dollar Brand, Charlie Antolini, Irène Schweizer, Pierre Favre, Nathanael Su, Co Streiff, Sardet Türköz, Stephan Wittwer oder Nik Bärtsch lassen eine außerordentlich große musikalische Vielfalt entstehen.
Das Schaffhausen Festival fand im Mai zum 16. Mal statt mit der 2. Ausgabe der sog. Schaffhauser Gespräche, deren erste Ausgabe in 2004 nun auch durch eine Publikation dokumentiert sind. Neben Bekanntem gab es auch viel Neues und Überraschendes, von einem Großprojekt von Jacques Demierre, dem Chris Wiesendanger Nonett, von Ania Losingers multimedialem New Ballet for Xala, dem Matthieu Michel Quartet bis hin auch zu zwei deutschen Gästen, dem Neu-Züricher Nils Wogram mit der Schweizer Gruppe Lush und George Gruntz mit der NDR Big Band und einem Monk-Memorial.
Im Juni gab es die 22. Auflage des „Taktlos-Festivals“, dieses Mal ohne den Partner in Basel, und kurz zuvor hatte das schon erwähnte Label Intakt seine 100. Produktion herausgegeben, die Einspielung des Gesamtwerks von Thelonious Monk durch Alexander von Schlippenbach, Axel Dörner, Rudi Mahall, Jan Roder und Uli Jennessen.
Taktlos war wie so oft geprägt von der Suche nach interessantem Neuen, mit Elektronik bis hin zu neuem Free Jazz, mit Borah Bergman, der Klavier-Legende aus New York, Fred Frith mit Carla Kihlstedt, Ken Vandermark und Mats Gustafsson und dem Duo Zeena Parkins / Ikue Mori.


Bei dem Besuch des Taktlos Festivals gab es die Gelegenheit für ein Gespräch mit Patrik Landolt, dem Produzenten von Intakt Records und einstigen Gründer des Taktlos-Festivals wie auch mit Urs Röllin, den Verantwortlichen für das Schaffhausen Jazzfestival.

Voriges Jahr habe ich über das „Jazz-Wunderland Schweiz“ geschrieben und das nicht ohne Grund. Ich habe den Eindruck, dass es hier in der Schweiz eine besondere Konzentration von Improvisierter Musik gibt wie kaum irgendwo anders. Was macht die Schweiz zu so einem aufregenden Musikland, wie kommt das zustande? Gibt es etwas Besonderes, was die Schweizer Musik ausmacht?


Landolt: Wir, das heißt die Menschen, die sich berufsmäßig mit der Musik befassen, sind selber oft über die Vielfalt, die Breite der Schweizer Szene und die großen Persönlichkeiten erstaunt. Über die Gründe kann man nur rätseln. Aber es fällt auf, dass in der Schweiz auch die Malerei und in die Literatur sehr vielfältig und lebendig sind. Es gibt viele Erklärungsversuche dafür, aber keine stringenten, die meisten sind nur halb wahr und meist widerlegbar. Die Banalste wäre: der hiesige Wohlstand erlaubt es den Künsterinnen und Künstlern, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Wahrscheinlicher ist: Im Jazz gibt es vielleicht so viele Musiker, weil es viele Lehrjobs gibt. Höchstens ein Dutzend Musiker kann von dem Konzertbetrieb alleine leben, die anderen verdienen ihren Lebensunterhalt zum Beispiel an Musikschulen. Auffällig ist, dass es in der Schweiz eine Tradition einer gewissen Knorrigkeit gibt, auch in der Kunst, ein großes Maß an Eigensinn, Originalität und Individualität. Auffallend ist auch der hohe Anteil der Musikerinnen in der improvisierten Musik. Das hängt gewiss mit einer bestimmten Nähe dieser Musik zu den sozialen Bewegungen zusammen.
Was die Frage nach dem speziellen Schweizerischen angeht: Sicher gibt es Musiker, die versuchen, die Volksmusik zu integrieren, so Jörg Solothurnmann oder Hans Kennel, viele andere auch noch. Am Meinsten hat mich bei der Zusammenstellung der Zürich CD-Compilation jedoch fasziniert, dass es in dieser Stadt eine urbane Mentalität gibt. Auf der CD sind beispielsweise drei Zürcher Sängerinnen zu hören: Peggy Chew aus China, Saadet Türköz aus der Türkei und Turkmenistan und Martianne Racine aus Schweden. Ich liebe es, wenn internationale Einflüsse sich in der Stadt verdichten. Das schafft Vielfalt und Auswahlmöglichkeiten. In einer solchen Kultur fühle ich mich wohl.
Anlässe wie eine «Street Parade» sind dagegen provinziell. Das hat mich immer an das Leben im Dorf erinnert. Der Anspruch der Street Parade, dass die ganze Stadt ein Fest macht und alle dieses „Bum Bum Bum“ hören müssen, hat ländlichen Charakterzüge. Urbanität hingegen beinhaltet das Versprechen auf Vielfalt und Wahlmöglichkeit.


Das Besondere besteht für mich eben darin, dass all diese Menschen aus anderen Ländern hier nicht nur leben, sondern ihre eigene Musik machen, die ja nicht mehr die originale Musik ihrer Heimat ist, sondern sich weiter entwickelt. Das macht die Qualität einer Musikmetropole aus, zu denen Zürich eben auch gehört. Und das kommt eigentlich auf der CD sehr schön heraus. Es gibt viele sehr unterschiedliche Entwicklungslinien, deren Besonderheit wohl auch ist, wie in dem Booklet nach zu lesen, dass diese sich treffen, Verbindungen miteinander eingehen.


Landolt:
Es gibt in Zürich zur Zeit verschiedene Initiativen, verschiedene Clubs und mehrere Spielorte. Zum Beispiel hat sich eine Gruppe von Musikerinnen und Musiker um den Saxophonisten Omri Ziegele und die Pianistin Irène Schweizer zur Organisation OHR zusammengeschlossen, um Konzerte und - gemeinsam mit dem Veranstalterteam Fabrikjazz - das Festival Unerhört! zu organisieren. An diesem Anlass stossen Zürcher Musiker auf internationale Grössen, verschiedene Strömungen des aktuellen Jazz werden präsentiert.


Und seit Wilhelm Tell ist die Schweiz ja auch eine freie Republik, Freiheit mit allen Vorbehalten
.


Landolt: Über die Frage der Freiheit in der Kunst wird schon lange diskutiert, seit Gottfried Keller, der das Klima der Kultur in der Schweiz mit dem vielzitierten «Holzboden» umschrieb. Seit dem 2. Weltkrieg wurde in der Schweiz Kultur auch immer in einem Zusammenhang mit Widerstand gesehen. Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia zum Beispiel wurde gegründet als eine vom Staat unabhängige Institution mit einem Resistance-Gedanke gegen den Faschismus, die Eigenständigkeit der nationalen Identität dem völkischen Einfluss aus Deutschland entgegen zu setzen. Gerade diese Suche nach der Identität war in der Schweiz über Jahrzehnte ein wichtiger Gegenstand der Kultur, etwa wenn man an Texte von Max Frisch denkt. Den Politikern oder der Wirtschaft hat es jedoch nicht immer gepasst, dass sich Kunst kritisch mit der Realität auseinandersetzt. Max Frisch wurde über Jahre von der Wirtschaftszeitung NZZ angefeindet. Seitdem ich als Konzertveranstalter oder CD-Produzent tätig bin, habe ich das Feld der Kultur immer als ein stark umkämpfter Bereich erlebt. Alles, was wir in der Vergangenheit erreicht haben, gelang nur dank zähen Auseinandersetzungen verschiedenster Art. Die Rote Fabrik als einer der wichtigen Veranstaltungsorte für die freie Kultur zum Beispiel gäbe es nicht, wenn nicht in den achtziger Jahren Zehntausende für Kultur-Freiräume demonstriert hätten. Die Zürcher Jazzförderung gab es vor den achtziger Krawallen noch nicht. Auch der Rock- und Pop-Kredit wäre nie geschaffen worden, wenn nicht die Bahnhofstraße einmal in Scherben gelegen wäre. Das ist jetzt kein Plädoyer für Gewalt. Aber historisch gesehen brauchte es diese Eruptionen, um die Defizite in der Kultur, im städtischen Klima und in der Lebensweise aufzeigen. Heute gelten natürlich ganz andere Formen der Auseinandersetzungen. Meine Erfahrung ist, dass es ohne wirkliches Engagement, ohne einen langen Atem und zum Teil auch gute Organisation keinen Fortschritt gibt.


Wie wird Jazz in der Schweiz finanziell unterstützt?


Landolt: In der Schweiz gibt es kaum eine staatliche Kulturförderung. Einzig die Filmförderung und das Landesmuseum werden vom Staat getragen. Kultur ist gemäss der Schweizer Verfassung Sache der Gemeinden und der Kantone. Ursprünglich ist die Schweiz im 19. Jahrhundert ein Bauernland gewesen mit ein paar kleinen Städten. Die Industrialisierung hat dann im 19. und 20. Jahrhundert sehr viel Veränderung gebracht. Aber immer noch gibt es außer Zürich und Genf keine grossen urbanen Zentren. Vieles ist sehr kleinräumig und dezentral organisiert. Gerade diese Dezentralisierung macht das besondere Profil der Schweiz aus. Es gibt zum Beispiel im kleinsten Ort im Thurgauschen, im Wallis oder im Engadin Kneipen, die auch Jazzkonzerte veranstalten. Es gibt auch in ländlichen Regionen unzählige Initiativen und Festivals. In den neunziger Jahren fand dann in den grösseren Städten ein Umdenken statt in Bezug auf die Kulturförderung. Aber es sind immer noch ganz kleine Beträge, die der Jazzmusik zugute kommen. Und heute herrscht rundum das Dogma des Sparens. In der Stadt Zürich, welche sich den Jazzclub Moods leistet und andere Initiativen unterstützt, erhält der Jazz immer noch nicht 1 Prozent der Summe, welche für Kultur ausgegeben wird.

 

Wenn man sich hier in Zürich umsieht, erlebt man einige Dinge, die es so nirgendwo gibt. So zum Beispiel den Plattenladen „Karbon“, der sich nur der Improvisierten Musik und der Pop-Avantgarde widmet. Oder wenn man sich den niedrigen Altersdurchschnitt bei dem Taktlos-Festival in der Roten Fabrik ansieht.


Landolt: Seit einige Jahren interessieren sich jüngere Leute vermehrt für anspruchsvolle Musik. Die Musikszene ist ja extrem durchgeschüttelt worden in den letzten paar Jahren. Vor ein paar Jahren fand das Taktlos vor einem sehr viel kleineren Publikum statt. Über die letzten Jahre ist es nun gelungen, das zu verändern. Der Programmverantwortliche Fredi Bosshard hat dafür hart gearbeitet.


Ist der Widerstand denn auch heute noch da oder aus welcher Quelle speist sich dieses kreative Potential?

Landolt:
Das kreative Potential zeigt sich in vielen Formen. Es kann auch ein Hyper-Individualismus sein oder eine Haltung des Nicht-Mitmachens, oder eine extreme Konzentration auf eine eigene Beschäftigung. Es gibt ganz verschiedene Formen, wie man sich heute äußern kann. Und es braucht natürlich immer in einer Szene ein paar Leute, die die politischen und organisatorischen Sachen übernehmen. Es gibt immer ein Zusammenspiel von Glücksfällen und Persönlichkeiten. Das Jazzfestival Willisau gibt es so lange, weil der Initiator Niklaus Troxler so lange diese hervorragende Arbeit leistet.

Engagieren sich die Sender?


Landolt: Der Rundfunk engagiert sich im Bereich des Möglichen. Der Leiter der Jazzredaktion bei Radio DRS 2, Peter Bürli, ermöglicht zahlreiche Aufnahmen. Viele Tonträger sind vom Schweizer Radio DRS 2 aufgenommen. Aber die Jazzredakton hat grosse Mühen, im Radio den Platz für den Jazz zu erhalten, insbesondere für modernere, aktuelle Spielformen des Jazz. Es gibt zwar sehr gut gemachte Sendeformen. Abere die heutige Programmkonzeption ghettoisiert den Jazz. Das ist für mich die Hauptgefahr für diese Musik: Wie kann es ihr denn gelingen, aus den kleinen Sendeflächen heraus Relevanz zu bekommen. Es gibt im Radio – vom TV gar nicht zu reden - zu wenig Jazz im alltäglichen Sendeprogramm. Ich erinnere mich an eine SUISA-Jahresabrechnung von Irène Schweizer, die belegte, dass alle drei Schweizer Radiokanäle während eines ganzen Jahres insgesamt 1 (eine) Minute Musik von Irène Schweizer sendeten. Ich mag selbst die Musik von Bach und Vivaldi. Aber wenn die ganze Zeit nur alte Musik gespielt wird, ist das Programm in ihrer Ausschliesslichkeit ziemlich eintönig. Auf welchem Planeten leben denn die Leute, die ausschliesslich alte Musik hören. Lesen die auch ausschliesslich Ulrich Bräker, Gottfried Keller und Schiller?


Ich würde dann noch gerne über das Label Intakt sprechen, das nächstes Jahr 20 Jahre wird und dieses Jahr das 100. Werk herausgebracht hat. VieleProduktionen sind erfolgreich. Einmalig ist das Abonnement-System, mit dem jede neue Produktion von vorneherein schon ein paar hundert mal verkauft ist.


Landolt: Die ersten Jahren zeichneten sich durch einen sorgfältigen, langsamen Aufbau aus. Ich habe das Label neben meiner Arbeit als Redaktor bei der Wochenzeitung (WOZ) betrieben, wo ich über Jahre eine 80 Prozent-Stelle innehatte. So produzierte Intakt Records mal zwei, mal drei CDs pro Jahr. Wenn ich heute zurückschaue, kann ich selber nicht mehr erklären, wie wir solch phantastische, aber aufwendige Produktionen wie von Barry Guy mit dem London Jazz Composers Orchestra realisieren konnten; und wir veröffentlichten nicht nur eine Produktion, sondern ganze 8 CDs mit dem London Jazz Composers Orchestra. - Während der letzten fünf Jahre reduzierte ich meine journalistische Tätigkeit und quittierte im vergangenen Winter nach 24 Jahren Redaktionsätigkeit meine Stelle bei der Zeitung vollständig. Über all die Jahren habe ich gelernt, sehr professionell und effizient zu arbeiten. Ich haben nicht zuerst ein großes Büro gemietet und einen Geschäftswagen vors Haus gestellt und bei der Bank um einen Kredit gefragt, den wir auch nie bekommen hätten. Intakt Records hat klein angefangen und wir alle gaben acht, dass die Infrastrukturkosten gering bleiben und man alles Geld, das man hat, in die Produktion investieren kann. Noch ein Wort zu der Idee des Abonnements. Ohne die Abonnenten, die heute sechs CDs pro Jahr beziehen, hätten wir die letzten Jahre nicht überleben können. Die Abonnenten sind eine neue Art von Mäzene, die unsere Arbeit durch ihre regelmässigen Bezüge unterstützen.


War das ein Zufall, dass „Monk’s Casino“ die 100. Produktion wurde? Vielleicht so eine Art Verkörperung einer musikalischen Idee?


Landolt: Die Nummer 100 hat insofern eine Bedeutung, als sie zeigt, dass während all der Jahre ein umfangreicher Back-Katalog gewachsen ist. Und die Einspielung des Monk-Gesamtwerk in einer eigensinnigen Interpretation ist ein faszinierendes Unternehmen. Mich hat besonders überrascht, wie dieses Quintett mit Alexander von Schlippenbach, Axel Dörner, Rudi Mahall, Jan Roder, Uli Jennessen, das unterschiedliche musikalische Zugänge und Generationen aufweist, eine höchst gekonnte, und eindrückliche Gesamtschau des Werkes von Monk liefert. Aber für Rückschau habe ich gar keine Zeit. Denn schon ist die die Intakt Nr. 101 mit dem Barry Guy New Orchestra erschienen sowie eine Compilation von Irène Schweizer mit einem 88seitigen Booklet, rechtzeitig zum Filmportrait der Pianistin. Weiter arbeite ich an einer Produktion von Fred Frith mit den beiden Musikerinnen Carla Kihlstedt und Steve Wishart sowie an der Veröffentlichung einer wunderbaren Aufnahme eines Schweizer Quartetts mit der Pianistin Gabriela Friedli, der Saxophonistin Co Streiff, dem Bassisten Jan Schlegel und dem Schlagzeuger Dieter Ulrich. Vier grossartige Schweizer Musikerinnen und Musiker, die es international noch zu entdecken gibt.


Die Tatsache, dass du auch einige ältere Aufnahmen von FMP wieder veröffentlicht hast und vor allem einige Musiker aus der früheren DDR, insbesondere das Zentralquartett als einziger in Europa nicht zum Vergessen gebracht hast, das ist schon was Besonderes.


Landolt: Die Anlässe der FMP der 70er Jahre und der frühen achtziger Jahre waren für mich sehr wichtig und gaben mir Einblick in die Welt der europäischen improvisierten Musik. Aus dem FMP-Katalog haben wir aber einzig die frühen Platten von Irène Schweizer, Hexensabbat und Wilde Senoriatas, bei Intakt als CD wiederveröffentlicht, mit der Idee, dass die Aufnahmen von Irène Schweizer bei Intakt Records versammelt sind und auch alle als CD erhältlich sind. Vom Zentralquartett haben wir eine verschollene Aufnahme aus den Jahren der Wende, die bei einem kleinen Label herauskam, das es nicht mehr gibt, neu herausgegeben. Mit einigen Musikern aus der DDR arbeite ich seit den frühen achtziger Jahren regelmässig zusammen. Ich war dann schockiert, aber auch traurig, als ich zusehen konnte, wie sich in Deutschland nach dem Fall der Mauer eine Stimmung der Abrechung breit machte, und auch wertvolle kulturellen Errungenschaften der DDR nichts mehr galten und selbst das Interesse an den wunderbaren Leistungen dieser Jazzmusiker in Deutschland verschwand. Intakt Records hat in den neunziger Jahren zwei weitere Aufnahmen mit dem Zentralquartett eingespielt, inzwischen sind es vier CDs und wir haben soeben noch eine fünfte aufgenommen, welche im kommenden Frühjahr erscheinen wird. Dazu kamen eine Solo-Aufnahme mit Günter Sommer, eine Solo-CD mit Conrad Bauer, eine Trio mit Bauer-Kowald-Sommer. Vielleicht brauchte es den fernen Blick aus der Schweiz, um im schwierigen deutsch-deutschen Klima der Wende die Bedeutung der ostdeutschen Musiker zu erkennen. Ich freue mich natürlich sehr, dass im letzten Jahr Conrad Bauer mit dem SWR-Preis ausgezeichnet wurde und Uli Gumpert diesen Herbst den Albert-Mangelsdorff-Preis bekommt. Das sind späte, längst verdiente Anerkennungen.

Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Glück.


Hör- und Lesetipps:
Jazz in Zürich. Intakt CD 099 (2 CD)
Alexander von Schlippenbach / Axel Dörner / Rudi Mahall / Jan Broder / Uli Jennessen:
Monks’ Casino – The Complete Works Of Thelonious Monk, 3-CD Intakt 100
Barry Guy New Orchestra. Oort – Entropy. Intakt CD 101
Irène Schweizer. Portrait. Intakt CD 105
Patrik landolt, Urs Röllin (Hrsg.): Schaffhauser Jazzgespräche Edition 01, Chronos Verlag 2005, ISBN 3-0340-0733-7

 

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