INTAKT RECORDS – CD-REVIEWS

MELINDA NADJ ABONJI - BALTS NILL
VERHÖREN
Intakt CD 240 / 2014

 

 

 

Carlo Bernasconi. Der Schweizer Buchhandel, November 2014

 

 

Christoph Merki, Tages Anzeiger, 24. November 2014

 

 

 

Mauro Guarise, Züritipp, 27. November 2014

 

Diese Hexe ist alles andere als des Teufels. Sie ist ein Gottesgeschöpf und als solches mittendrin in seiner Schöpfung, im Leben, im Auge des Hurrikans. Dort ist es still. Und die Hexe hört buchstäblich das Gras wachsen, den Rotschwanz singen und den eigenen Körper vibrieren, wenn es Frühling wird. «Ist es nicht so, dass man, wenn das Dorf ausser Sichtweite ist, die zu Schnecken geformten Zöpfe lösen muss – weil es angenehm ist?», fragt sie. «Angenehm, das warme Haar auf dem Rücken zu fühlen. Schweres, warmes Haar. Freies Haar. Der körperwarme Wind, der dem Haar schmeichelt …» Und eine Stimme, die dem Ohr schmeichelt! Die ungarisch-schweizerische Autorin Melinda Nadj Abonji («Tauben fliegen auf») hat der Hexe einen Monolog auf den sinnenfreudigen Leib geschrieben und für vorliegendes Hörstück ihre Stimme geliehen. Eine warme, doch kristallklare Stimme, die zwischendurch in leises Vor-sich-Hinsingen verfällt, in eine fremde, dunkle Sprache, die den Blues hat. Hart kontrastiert dagegen das helvetische Idiom von Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart. Pendelnd zwischen dem alten Originaltext und aktueller Amtssprache liest er aus den Averser Prozessakten von 1652 vor, was die Melkerin Trina Rüedi getan haben soll: «Zwei Ku verderbt und ein Bulfer gegeben inss Teüfels Nammen.» Den Hans mit einer Krankheit geschlagen und das arme Katrini verhext. Und überhaupt hat sie sich anstössig verhalten, denn damals war Singen und Tanzen im lieblichen Bündner Averstal strengstens verboten. Es ist denn auch keine Tanzmusik, die Balts Nill, einst Musikant bei Stiller Has, zur Vertonung von Prozessprotokollen und Hexenmonolog beiträgt. Vielmehr macht er das Wachsen der Christrose hörbar, macht die Folter hörbar, mit der die Hexe zu Geständnissen gebracht werden soll – knarzendes Holz, dumpfe Schläge, das Pochen eines Herzens, das aus dem Rhythmus fällt. Nein, die Hexe hat nicht mit dem Teufel geschlafen. Es war der Gutsherr, der sie vergewaltigte. Sie habe ihn gereizt, heisst es in den Prozessakten, ohne Kopftuch und mit nur lose geflochtenen Zöpfen. Trina Rüedi wurde verurteilt, mit der CD «Verhören» ist ihr ein Denkmal gesetzt worden, das nachklingt bis in heutige Kopftuchdebatten hinein.
Tina Uhlmann, Gehört, Berner Zeitung, 27.11.2014, Schweiz

 

Die Stimme vom Galgenplatz

Melinda Nadj Abonji und Balts Nill rollen auf ihrer CD einen Hexenprozess aus dem 17. Jahrhundert auf.

Am Ende rumort der Kontrabass, als wolle er von einer Welt berichten, in der etwas ganz schrecklich schiefgelaufen ist. Und das ist es: Melinda Nadj Abonji und Balts Nill rufen uns in «Verhören» die Hexenprozesse in Erinnerung. Ihr Hörspiel, das sie in dieser Woche am Festival Unerhört in Zürich vorstellen, basiert auf alten Prozessakten, die sich erhalten haben in Avers. Es waren mindestens dreizehn Hexen, die dort in den Jahren um 1650 hingerichtet wurden – an einer Lichtung namens Galgaboda. Eine von ihnen war Trina Rüdi. Das Hörspiel zitiert in 18 Text- und Musikstücken aus den Protokollen. Zu Beginn des Albums hören wir die Stimmen des «von Gott verordneten Landweibels» oder des «Herrn Richter», zusammengekommen zum Gericht, um «miteinander das Böse auszurotten».Doch es kommt in «Verhören» nicht nur die Obrigkeit zu Wort: In einem fiktiven Text schauen Abonji und Nill gleichsam ins Innerste der Seele von Trina Rüdi. So denken sie – paradox gesprochen – die Prozesse von Avers weiter ins Reale. Denn die überlieferten Dokumente erzählen die Geschichte offensichtlich nur als Zerrbild aus Sicht der Obrigkeit. Mit ihrer Sprech- und Gesangsstimme tritt die bekannte Autorin Abonji als Trina Rüdi auf und gibt dem Opfer so eine Stimme. Über die meisten Angeklagten bei den Averser Hexenprozessen ist fast nichts bekannt. Die Protokolle in «Verhören» berichten auch von einem Geständnis nach der Folter: «Am Morgen früh sagt sie, es sei wahr.» Doch daneben entwickelt das fiktive Ich der Trina Rüdi ein anderes Bewusstsein. Rüdi stellt Fragen: Wenn sie ihr Haar aus den zu Schnecken geformten Zöpfen herauslöse, «weil es angenehm ist, das warme Haar auf dem Rücken zu fühlen», sei das denn wirklich sündhaft und nicht vielmehr ein Stück Natur, ja gar von Gott so gewünscht?

Eine pietätvolle Musik
Von einer Vergewaltigung von Trina Rüdi ist im Hörspiel ebenso die Rede. Ist die Frau schuld, weil sie verführte? Die «Hexe» bei Abonji und Nill verteidigt sich. Fragen beim Verhör spielt sie zurück, gibt ihre Peiniger der Lächerlichkeit preis: «Ich hätte ihn in meiner Gewalt gehabt. Womit denn? Mit meinen Zöpfen?» So erhält Trina Rüdi einen, so Balts Nill, «Gegentext» zu den Protokollen. Die «Hexe» entlastet sich und belastet ihre Richter, und sie denkt dabei auch schon mal selbstbewusst wie eine Frau aus dem 21. Jahrhundert. Und doch: Die Autoren dieser fiktiven Hexe wissen nur zu genau, dass sich alles anders zugetragen hat, dass alles schrecklich endete. Trina Rüdi spricht – via Abonji – die ganze Zeit sehr leise und ohne jede Empörung. Selbst im Hörspiel bleibt die Macht der Trina Rüdi eine gebrochene. Und auch wenn Abonji und Nill ihre Hauptfigur mit ihrer Einbildungskraft nicht nur als namenloses Opfer zeichnen, sondern als Subjekt aufbauen: Dem Gegentext sind Grenzen gesetzt. Am Ende ist Geschichte eben nur neu deutbar, und was passiert ist, ist passiert: Noch in ihren spöttischen Bemerkungen wirkt Trina Rüdi hier so, als wüsste sie, dass sie im Grunde ihr eigenes Requiem verliest. Vor diesem Hintergrund ist auch die Musik spärlich. Jedenfalls viel spärlicher, als man es vermuten würde bei Abonji und Nill, die beide nicht nur Autoren sind, sondern auch Musiker (Nill war Gründungsmitglied von Stiller Has). Meist sind da nur knappe Ukulele-Töne und etwas Perkussion. Die Pietät vor dem Stoff verbietet die grossen musikalischen Gesten. Nur ganz zum Schluss, da verliert die Musik ihr Zaghaftes. Als solle doch noch etwas zurechtgerückt werden. Der Bass rumort und empört sich. Er sagt, was Trina Rüdi nie sagte. Auftritt am Festival Unerhört: Samstag, 29. 11., Theater Neumarkt, Zürich.
Christoph Merki, Der Bund, 25. November 2014, Schweiz

 

 

CD-Taufe
Melinda Nadj Abonji und Balts Nill

Vor über 300 Jahren verurteilte das Gericht von Avers mehr als ein Dutzend Frauen wegen Beischlaf mit dem Teufel zum Tode. Eine davon war Trina Rüedi, deren Prozessakten in Fragmenten erhalten sind. Die Performerin und Autorin Melinda Nadj Abonji («Tauben fliegen auf») und der Multiinstrumentalist und Autor Balts Nill (ehemals Stiller Has) haben sich vor zwei Jahren in die Gerichtsprotokolle eingelesen und sich intensiv mit Trina Rüedis Verurteilung auseinandergesetzt. Daraus ist eine musikalisch-literarische Performance entstanden.
Auf ihrer gemeinsamen CD «Verhören», die dieser Tage erscheint, besingt Nadj Abonji die unheimlichen Ereignisse rund um die Hinrichtung. Nill und sie erzählen zu Klängen der Ukulele, zu Windgeräuschen und sanften Trommelschlägen, was damals geschah, und geben der als Hexe verurteilten Frau eine Stimme: «Fragen eines törichten Weibes: Warum verschwenden Sie Ihre Kraft an mir, warum verwenden Sie sie nicht darauf, den Teufel selbst zu fangen?»
«Verhören» ist eine spannende und anspruchsvolle musikalische und inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Stück Zeitgeschichte, das heute noch kaum aufgearbeitet ist. Man taucht in eine ganz eigene Atmosphäre ein, die die beiden KünstlerInnen mit Geräuschen und Worten schaffen. Ihre CD taufen Nadj Abonji und Nill im Rahmen des Unerhört-Festivals in Zürich, mit Unterstützung von Mich Gerber am Kontrabass. Vor ihrer Performance tritt der Schlagzeuger Julian Sartorius auf.
Silvia Süess, Wochenzeitung, WOZ, 29. November 2014

 

 

Heutzutage wundert man sich mit Abscheu über die Taliban und
den Islamischen Staat mit ihren Kopfabschneidern und ihrer
'mittelalterlichen Barbarei'. Aber sollte uns, hinter aller Gnade der
späten Geburt, nicht vieles davon bekannt vorkommen? Das
Orginal des IS nannte sich Christliches Abendland und es übte
seine gottgefällige Schreckensherrschaft jahrhundertelang bis ins
kleinste graubündner Kaff aus. Dort, in Avers, fand in den 1650er
Jahren einer der unzähligen und unsäglichen Hexenprozesse statt.
Nicht im Mittelalter, sondern zu Lebzeiten von Gryphius, Pascal und
Rembrandt. Und nicht irgendwo, sondern überall wurden sie
gefoltert und verbrannt, Frauen wie Trina Rüdi, oder, noch 1749,
Maria Renata Singer, kaum 5 km von meinem Schreibtisch, im
'Hexenbruch' bei Würzburg, einer Hochburg des
Vernichtungswahns. "Das Böse ausrotten" als Alltagserfahrung, mit
allem, was dazu gehört: Gedankenverbrechen, Doppeldenk,
Neusprech, Denunziation. Die Prozessprotokolle von Avers bilden
die Grundlage für die "Hexperimente"-Reihe, zu der nun auch
MELINDA NADJ ABONJI & BALTS NILL mit Verhören (Intakt CD
240) eine poetische Performance gestaltet haben. Zu den
hintergründig schlichten Klängen seiner Percussion und Ukulele,
ihrer Geige oder dem Kontrabass von Mich Gerber versenkt sich
die ungarisch-schweizerische, mit ihrem Roman Tauben fliegen auf
bekannt gewordene Schriftstellerin in jene wahnbedrückten,
sinnesfeindlichen Jahre mit ihrem von der "ehrsamen Obrigkeit" zu
Kontroll-, Folter- und Mordinstrumenten perfektionierten 'Gott will
es'. 'Gott' will nicht, dass man tanzt, 'Gott' will nicht, dass man
spielt, 'Gott' will nicht, dass man sich allein oder gar zu zweit wohl
fühlt in seiner Haut. Die Blähungen einer Kuh oder eine 'lockende'
Haarsträhne konnten jede(n) in Teufels Küche, in die Mühlen eines
höllischen A/bsu/rdistan bringen, als Sündenbock, für den es kein
Entkommen gab. In Schwizerdütsch gelesene Protokollausschnitte
machen die fadenscheinige Eigenlogik der 'Anklagepunkte' und
'Beweise' deutlich. Nadj Abonji räsonniert über die Gottgefälligkeit
sinnlichen Leiber und wehender Haare und überhaupt aller
Natürlichkeit in ihrer 'Wollust'. In dem, was sie laut denkt und leise
singt, macht sie das Ausmaß der 'Männerphantasien' hinter der
Gottesstaatenbilderei und ihrer exterminatorischen Nöte deutlich.
Zwischen 1627 und 1629 wurden bei 42 gottgewollten Parties allein
in Würzburg 219 Satansbraten gegrillt. Und old Nobodaddy aloft?
Erzählt mir nicht, er sei Vegetarier geworden.

Rigobert Dittmann, Bad Alchemy, Würzburg, 84-2014

 

 


Frank von Niederhäusern, Kulturtipp, Schweiz, 1-2015

 

 

 


Ein tönendes Denkmal für Trina Rüdi († 1654)
Der Journal-B-Klangkolumnist Balts Nill und die Schriftstellerin Melinda Nagj Abondji erinnern mit Klängen und Texten an eine Frau, die in den Averser Hexenprozessen hingerichtet worden ist.

Die Gemeinde Avers liegt in einem Bündner Seitental und zieht sich bis über 2100 Meter nach Juf hinauf. Hier gibt es den Verein «die bühne von avers», der Künstler und Künstlerinnen dazu anregt, sich in die Protokolle der Averser Hexenprozesse (1652-1664) zu vertiefen und Material daraus in zeitgenössische Kunstwerke zu transformieren.
2011 lud der Verein Balts Nill und Melinda Nagj Abondji zum «hexperiment VI» ein. Die beiden setzten sich im besonderen mit den Akten der Trina Rüdi auseinander: Diese junge Frau war 1652 vor Gericht gestellt worden, denunzierte «vor, in und nach der Folter» ein knappes Dutzend Personen, kam vorübergehend frei und wurde zwei Jahre später in einem zweiten Prozess doch verurteilt und in der Waldlichtung «Galgaboda» hingerichtet.
Erarbeitet haben Nill und Nagj Abondji eine Musikperformance, die sie im Sommer 2012 im Avers uraufgeführt und Anfang 2014 unter dem Titel «Verhören» als Hörstück mit 18 Nummern eingespielt haben.
Um das «Verhören» im Doppelsinn des Wortes geht es: Es geht zum einen um die obrigkeitliche Macht, Angeklagte zu Geständnissen zu pressen, die die Wahrheit bestätigen, die sie hören will – in diesem Fall, dass Trina Rüdi «inß Teüfelß Nammen» mit dem Rothaarigen von «kaltem und grobem Wesen» geschlafen habe. Und es geht zum anderen um das Verhören als Miss- und Nichtverstehen; um die Unsicherheit, wer genau in den mehrhundertjährigen Akten was gesagt hat; darum, wie das Protokollierte heute zu verstehen ist; aber auch darum, wie sich eine Frau verteidigen soll, der vor dem ersten Wort verurteilt ist durch einen Wahn in den Köpfen ihrer Richter.
Auf der CD liest als Gast Hanspeter Müller-Drossaart in dialektal gefärbtem, altertümlichem Deutsch mehrere Sequenzen aus den Akten und legt so den dokumentarischen Boden. Darüber gestaltet Balts Nill – teilweise unterstützt von Mich Gerber am Kontrabass – in durchgehend leisen Perkussionsrhythmen und Ukuleleklängen eine sanft flirrende Tonspur, die oszilliert zwischen dem Insektenflug über einer sommerlichen Bergwiese, dem Herzschlag der jungen Frau zwischen Hoffen, Lust und Angst und dem Marschschritt von Obrigkeit und Henker.
In diesen Raum spricht Melinda Nadj Abondji ihre poetische Rollenprosa, mit der sie der Trina Rüdi ihre Stimme verleiht: Es spricht ein junger Mensch, der naiv und treuherzig darauf zählt, mit klugen Warum-Fragen den machtbesessenen Pfründensitzern des Gerichts die Augen öffnen zu können. Refrainartig fragt sie ihre Richter (unter denen auch ich mich zuhörend unwillkürlich wiederfinde), warum das von Gott Geschaffene, demnach also Gottgefällige, sündhaft sei; der Körper, das Wachsen und Gedeihen, die «Hingabe an den Wind».
Dramaturgischer Höhepunkt ist das Geständnis der Angeklagten: Sie schildert ihre Vergewaltigung, begangen nicht von einem teuflischen Rothaarigen, sondern von einem, den sie, als sie ihn erkennt, mit «Herr» anspricht und der nun angibt, die Hexe habe ihn ausser sich gebracht, weil sie im Stall beim Melken kein Kopftuch getragen und die Zöpfe nachlässig geflochten gehabt habe. Ihren Bericht schliesst die Vergewaltigte vor den Richtern mit den Worten: «Rufen? Wem soll ich denn rufen? Ihnen?» Der anschliessende, wortlose Klagegesang, der über einem wiederkehrenden Ukulele-Motiv bloss aus wenigen Tönen und Lauten besteht, sollte man mindestens einmal in seinem Leben gehört haben.
«Verhören» sei «ein berührender Grenzgang zwischen geschichtlicher Deutung und Zeitdiagnose – höchst aktuell in der Auseinandersetzung mit Gender-Fragen, faszinierend im Spiel mit Sinnlichkeit, Körper, Repression und Befreiung», so der PR-Text des Plattenlabels intakt. Man kann das sicher so sagen. Bloss, deshalb hätte ich mir diese Aufnahme nicht mit zunehmender Faszination angehört. Faszinierend ist nicht das Was, sondern das Wie: das kongeniale Understatement von Text und Musik; diese geradezu lieblich, in lakonisch klimpernder Untertänigkeit vorgetragene radikale Kritik an einer gnadenlos ungerechten Welt, die ihre abergläubische Gottgefälligkeit bemüht, um eine vergewaltigte Frau zur Hexe zu machen. «Verhören» ist ein berückendes und bedrückendes Hörerlebnis zugleich. 
Fredi Lerch, Journal B, Bern, 15.01.2015

 



Thorsten Meyer, Jazzpodium, Stuttgart, Februar 2015

 

 

 

Steff Rohrbach, jazz'n'more, Schweiz, Mai 2015


 

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