LUCAS
NIGGLI ZOOM. SPAWN OF SPEED. INTAKT CD 067
PORTRAIT
LUCAS NIGGLI, SOMMER 2002
Mindestens ein Schritt weiter
Von Marcus Maida
Die kamen, die Schweizer! Das 31. Moers-Festival brachte neben den erweiterten
Hardcore-Kammermusikern Koch-Schütz-Studer vor allem den schnellen und
scheinbar omnipräsenten Lucas Niggli mit gleich zwei Formationen auf
die grosse Bühne: zum einen mit dem Trio «Steamboat Switzerland», zum
anderen mit seiner eigenen Gruppe «Zoom». Als wäre das nicht schon genug,
schwang Niggli jeden Vormittag beim Moers-Projekt «Dampfschiff Schweiz»
Stöcke und Besen und bot nach dem «Steamboat»-Auftritt am Samstag, man
gönnt sich ja sonst nichts, auch noch ein spontan angesetztes Duokonzert
mit Marcel Papaux als «The Jugglers» im Dunkelzelt. Ist der Mann besessen
von Musik?
Höllenfahrt
im Dampfschiff
«Ich arbeite gerne», lacht Lucas, «das stimmt allerdings. Es ist aufregende
Zeit.» Herzlich ist seine Begrüssung, bescheiden, aber unglaublich vital
und voller Energie ist seine Präsenz. Lucas Niggli, der in Uster bei
Zürich lebt, ist einer der profiliertesten Aktivisten einer jungen Schweizer
Jazz-Szene, der äusserst konzentriert wie begeistert die ständige Kontexterweiterung
sucht - über Kollaborationen informiert ausgiebig seine Website. Der
momentane Fokus bei dem 34jährigem Drummer liegt jedoch tatsächlich
auf den zwei Gruppen, mit denen er in Moers auftrat. Schon der Soundcheck
von «Steamboat Switzerland» erinnerte manche an Deep Purple: laut und
krachig warÕs, was hinter dem schwarzen Vorhang hervorkam. Die Hammond
vom (standesgemäss schwarzlederbehosten) Dominik Blum (auch am Korg
MS-20 und der Bandmaschine) und der Bass von Marino Pliakas - beide
übrigens hervorragende Interpreten «neuer Musik» - bilden tatsächlich
ein mächtiges Klangkonvolut, ergänzt durch LucasÕ gezielt-prägnantes
Spiel. «Steamboat» ist reiner Gruppenklang, absolut kollektiver Sound,
barock, mächtig, prägnant, für solistische Einzelfahrten bietet dieses
alles andere als etwa gemächlich über den Zürisee pluckernden Dampfschiff
keinen Platz. Vom zwingenden Gesamtvolumen dieser Höllenfahrt erinnert
dies im aktuellen Kontext durchaus an Naked City, Fantomas oder gar
an das Terrorklangvolumen der notorischen Borbetomagus, jedoch ist bei
«Steamboat», so versichert Lucas, in der Regel alles notiert, und so
ergibt sich auch eine komplett differenziertere und äusserst präzise
Dramaturgie. Die drei Musiker improvisieren entweder mit zuvor erarbeiteten
und komplett definierten, aber frei zusammenfügbaren «Modulen», oder
sie spielen ihre Notationen und Skizzen vom Pult ab und verständigen
sich auch im grössten Hardcore und Heavy-Rausch per Handzeichen. Dabei
bricht der Energiepegel nie ab: Lucas drischt an seiner opulenten «Batteria»
selbst die komplexesten Rythmen punktgenau und intensiv, eine Fähigkeit,
die er an Drummern wie Terry Bozzio (u.a. ex-Zappa), Dave Lombardo (u.a.
ex-Slayer, jetzt Fantomas) oder Joey Baron (u.a. ex-Naked City) so schätzt.
Aber das sind nur Vergleichsparameter, denn hochoriginell und von einer
sehr eigenen Intensität geprägt ist das Schweizer Spiel allemal! Aus
ihrem Spielrausch kommen sie immer wieder sehr exakt heraus, akzentuieren
sogleich eine mögliche andere Struktur, steigern sich endlos ins Kakophonische
im Rausch wieder hoch, um dann - natürlich mitten in Moers - in einen
1a Mosh-Part zu verfallen. Das Publikum johlt, und Dominik Blum besorgtís
der Crowd mit seiner Ian-Gillian-Gedächtnisstimme noch einmal so richtig.
Die Leute in den Stuhlreihen nicken geflissentlich mit - Headbangen
ist das nicht wirklich -, und das Trio kommt von einem zusammengepressten
Emerson, Lake und Palmer-Modul in einen atemberaubenden Speedmetalteil,
der dann von einer völlig komplexen und abstrakten Rythmik geweitet
und zerfräst wird. Doch bevor sich das einschleift, geht man abermals
abrupt in einen bangenden metallischen Gesamtrhythmus über, bis die
Staccato-Orgelparts wieder in määndernde Flächen überführt werden und
so geht es im stetigen Wandel spannungsvoll weiter. Es erscheint, als
erfindet sich diese Freeform-Rockmusik jeden Moment neu, um die Geister
der Rock- und Jazzgeschichte anzurufen und zugleich auszutreiben. Bei
«Steamboat» focussiert sich zudem eines der wichtigsten musikalischen
Interessen von Lucas Niggli: mit sehr hohem formalen Bewusstsein exakt
auf den Punkt kommen zu können, dabei ein atemberaubendes dramaturgisches
und energetisches Level zu halten, und sich gleichsam mit der Gesamtformation
in eine intensiven und mitreissenden Spielrausch bringen zu können,
ohne den das ganze Spiel letztlich - auch für das Publikum! - nichts
wert ist.
Geht einen
Schritt weiter!
Bei «Zoom» organisiert sich diese Haltung vom Klang her etwas anders:
man geht genauso konzentriert und sogar in den grössten Lautstärken
und Intensitäten fragil vor, lässt aber mehr klanglichen Raum in der
Struktur für die Klangfarben offen - etwas, was Lucas aus seiner Beschäftigung
mit der zeitgenössischen («neuen») Musik gelernt hat, von deren ästhetischer
Klangkultur er begeistert ist. Den improvisatorischen Gestus und den
Drive des Jazz mit der Präzision und dem Klangreichtum der zeitgenössichen
Musik zu verbinden, ist daher ein Anliegen, dem bei «Zoom» auf die höchstversierte
Weise nachgegangen werden soll. Und dies ist bei so herausragenden Mitmusikern
wie eben Philipp Schaufelberger an der Gitarre und Nils Wogram an der
Posaune kein nicht so grosses Problem mehr, sondern dafür geradezu eine
Freude - auch beim Zuhören. «Zoom» spielen in Moers ebenfalls mit Notation.
Sehr schnell und filigran kommt man bald auf extrem abstrahierte Jazz-Idiome
aus Swing und Blues, die aber immer noch nachvollziehbar sind - nicht
umsonst heisst ein Stück «Superblues». Das Spiel der «Jazzkapelle»,
wie Lucas seine Band vorstellt, ist bei aller Komplexität dabei ungemein
leicht, luftig und extrem interaktiv. Glanzstücke wie Schaufelbergers
Fingerbrecherläufe, Wograms Mundstück-«Moaning» und Nigglis perkussives
Spiel mit den Fingern schaffen bisweilen sehr reduzierte wie intensive
Spielweisen, die in ihrem Swing fast schon latino-mässig daherkommen.
Auffällig vor allem das generell ungemein dichte und konzentrierte Zusammenspiel
- das ist Jazz, das sind Stücke, und kein amorphes und endlos-määnderndes
Free-Form-Gefrickel! Schaufelberger, der seine Gitarre nahezu wie ein
akustisches Instrument und mit wunderbarem Phrasing spielt, und Wogram,
dessen feinfühlige wie prägnante Posaune das Jazzpublikum schon seit
Jahren begeistert, geraten mit Niggli, der das Publikum mit der Impulsivität
und Genauigkeit seiner Rythmik verblüfft, auf eine spielerisch-kommunikative
Ebene, die eine ganz eigene Klasse ist und gleichzeitig ein exzellentes
und herausragendes Modell für Improvisation. Niggli hat hier eine Gruppe
gefunden, die Abstraktion rollen lassen kann und sich einen klaren Rausch
zu erspielen weiss - kann man einer Jazzband in der Hier- und Jetztzeit
ein grösseres Kompliment machen? Hier braucht es keiner präventiv «krachen»
zu lassen und an der Volumeschraube zu drehen, das Spiel ist vielmehr
fragil, schwebend und sanft, oft hängt gar ein Miles-Vibe in der Luft,
dezent und gleichsam total zwingend. Der naheliegendste Improvisationsgestus
ist nicht das Ding dieses Ausnahmetrios, sie scheinen das zu praktizieren,
was Miles einmal sagte, und was so viele improvisierende Combos der
Jetztzeit immer noch nicht verstanden haben: «Spiel nicht, was Dir gerade
einfällt - geh einen Schritt weiter!» Aber dann geht der Gestus wieder
auch ins Forsche, Fordernde, Packende und Schnelle über, und man steigt
gemeinsam in der Lautstärke an. Das für viele beste Konzert in Moers
2002 begeisterte das Publikum nachhaltig: Standing Ovations, Gejohle,
sogar ein «Ausziehen!»-Ruf - Puh! Durchatmen - das hatte man wirklich
gebraucht!
Wurzelziehen
Am nächsten Tag bestaunt
Lucas mein mittlerweile ziemlich altes, aber unglaublich treues Band-Diktiergerät,
und wer hätte gedacht, dass so ein Maschinchen auch bei «Zoom» eine
grosse Rolle spielt? «Die meisten Kompositionen entstehen tatsächlich
ganz unintellektuell, vom Ohr her, beim Üben, wenn ich etwas neues entdecke.
Ich singe meistens beim Spielen, und dann finde ich irgendwelche Lines
dazu und dann nehme ich sie aufs Diktaphon auf. Das Material wird transkribiert
und bleibt dann erst mal eine Weile liegen, und Monate später habe ich
dann vielleicht eine ganze Kollektion Material, und dann wird da ausgemistet,
durch den Filter gelassen und durch den Fleischwolf gedreht. Am Schluss
habe ich ein Surrogat, und daraus baue ich mir dann die Stücke für das
Trio.» Zwar hat Niggli auch einige Stücke komplett am «Reissbrett» gemacht,
doch ansonsten entwickeln sich die sehr präzise und extrem ausgehörten
«Zoom»-Kompositionen über die Zeit. Wir zoomen kurz zurück: beim kollektiven
Gruppensound von «Steamboat Switzerland» ist Niggli entweder Improvisator
oder Interpret: die Band spielt ausschliesslich Stücke von Komponisten,
die für sie geschrieben haben, und das in einem sehr spezifischen Rock-und-Neue-Musik-Kontext.
«Meine Wurzeln liegen aber eindeutig im Jazz», beteuert er, «und das
hat natürlich mit meinem Instrument zu tun, weil das Schlagzeug ist
vor allem hier im Sinne von komplexen und virtuosen Spiel weit getrieben
worden, obwohl es auch natürlich im Rock Sachen wie King Crimson oder
Terry Bozzio gibt.» Doch obwohl Niggli das Schlagzeug zuerst in einem
Jazzkontext gelernt und gespielt hat, interessieren ihn von den Ästhetizismen
her die Sachen in der zeitgenössichen, improvisierten und elektronischen
Musik im Grunde mehr als das, was derzeit im Jazzbereich passiert. «Doch
als Jazzschlagzeuger ist es für mich schwierig, sich diesbezüglich organisch
zu seinen Wurzeln zu verhalten, und die einzige Möglichkeit war da zu
sagen: ich mache mir meine eigene Band und versuche in diesem Trio all
diese Einflüsse zusammenzuzoomen. Ich bin kein Dogmatiker und habe in
meinem Alter auch noch nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen oder
kann sagen: jetzt habe ich meine Sprache gefunden! Vielmehr möchte ich
mich diesem Spannungsfeld voll aussetzen, und die einzige Möglichkeit
war die Gründung dieser Band, um Stücke zu schreiben, wo ich mir Rechenschaft
darüber ablegen muss und von denen ich sagen kann: das möchte ich hören,
das möchte ich spielen.» «Zoom» existiert seit drei Jahren, und hier
ist die vielbeschworene Bandchemie extrem wichtig. Wie fanden diese
hervorragenden Musiker zusammen? «Ich wusste, dass ich keinen Bassisten
haben möchte, weil ich mit so klaren stilistischen Anlehnungen arbeite,
dass mit einem Bassisten die Bezüge viel zu offensichtlich wären und
es vielleicht viel zu plump klingen würde, da ist man sofort wieder
in der Rolle der Rythm-Section. Und mir ging es darum, dass das Schlagzeug
eine emanzipierte Rolle einnimmt, eben nicht in der Rythm-Section versinkt,
sondern auch eine sondierende, begleitende, melodische oder themenspielende
Funktion übernimmt. Das war das eine, das andere war, dass ich es trotzdem
gerne habe, wenn es fett klingt, wenn es kompakt klingt, wenn es auch
orchestral klingt, und deshalb habe ich zwei Tenorinstrumente gewählt.
Aber das war nur das Sekundäre, denn das wichtigste waren eigentlich
die Menschen, die dieses Instrument spielen.»
Komplexität
muss Spass machen
Mit Schaufelberger verbindet Niggli eine lange Geschichte, sie haben
schon vor 15 Jahren viel Strassenmusik zusammen gespielt, und auch im
Jazzbereich gemeinsam konzertiert, Wogram hingegen, den er gar nicht
kannte, hörte er auf einem Konzert und dachte nur noch: «Diesen Musiker...ich
habe jeden Ton verstanden, den er gespielt hat.» Ein halbes Jahr später
riss sich Niggli dann zusammen, rief an und sagte: «Schau, lass uns
mal proben, ich hab da eine Idee, aber ich verspreche nichts, wennís
nicht klappt, lassen wirs.» Ergebnis: vom ersten Tag an waren Schaufelberger
und Wogram die dicksten Freunde, und mittlerweile ist Wogram aus privaten
Gründen ebenfalls nach Zürich gezogen « für Niggli, dem es sehr wichtig
ist, dass Musiker seine Ideen engagiert umsetzen, die allerbeste Voraussetzung.
Demnächst verlässt «Zoom», die in Moers ein komplett neues Repertoire
spielten, sogar das Statement «Trioform» und spielt mit Claudio Puntin
an der Klarinette und Peter Herbert am Bass gar als Quintett auf « da
ist noch einiges zu erwarten. Doch wie entwickelte sich denn das Konzept
von «Zoom» aus der Art heraus, wie Niggli früher Musik improvisiert
genauso wie arrangiert hat? Da hat sich der Fokus doch mittlerweile
stark verändert? «Allerdings», bestätigt Niggli, «Es gab ja vor bis
zu fünf Jahren kaum Literatur für Neue-Musik für Drumset. Das ändert
sich jetzt auch, da jüngere Komponisten, die mit Funk und Rock grossgeworden
sind, jetzt Komposition studiert haben und diese Ästhetizismen
reinbringen in ihre Kompositionen « genauso Leute, die wir bei «Steamboat»
interpretieren, wie Sam Hayden, David Dramm oder Michael Werthmüller,
die auch wirklich für Drumset und Kickdrum schreiben. Und das ist für
mich phantastisch! Dazu kommen aber auch meine Afro- und Jazzroots,
das polyrythmische Spiel, das energetische und akustische Spiel « und
das alles kann ich mit diesem Trio wirklich weiter entwickeln. Und da,
kann ich sagen, ist ein grosser Weg hinter mir - aber es ist noch ein
viel längerer vor mir!» Niggli profitiert enorm von dem Wissen, dem
Können und nicht zuletzt auch dem sozialen Bewusstsein zeitgenössischer
Komponisten. «Ich geniesse das extrem! Musik ist eine soziale Angelegenheit,
und auch wenn ich bei «Zoom» der Leader bin, ist das ein Kollektiv,
das ist mir ganz wichtig.» Mittlerweile schreibt Niggli selbst zeitgenössische
Musik, und hat auch schon drei grössere Kompositionsaufträge erhalten.
Das 45-Minuten Stück «Serendipity» für Jugendorchester wird im September
in Zürich uraufgeführt. «Kann ich das, fragte ich mich, als mir nach
einem «Zoom»-Konzert der Auftrag angeboten wurde. Aber ich mag Risiko,
und so habe ich es einfach versucht. Und ich habe sehr sehr viel damit
gelernt, zum Beispiel Klangfarben zu schreiben. Auch in pragmatischer
Hinsicht: ein Jugendorchester muss Spass haben beim Spielen, aber Spass
heisst nicht Einfachheit, heisst nicht eindimensional zu sein. Die Komplexität
muss Spass machen und direkt ansprechen. Das ist genau das, was Duke
Ellington so unglaublich gut beherrscht hat, dass er es seinen Leuten
auf den Leib geschrieben hat. Und das Orchester hat verdammt gut geklungen!»
This is
Freedom!
Mittlerweile hat Niggli
einen Auftrag für ein Stück vom renommierten und etablierten Ensemble
Für Neue Musik Zürich erhalten, in das er, so seine Bedingung, «Zoom»
als ganzes partiell einbinden will « nicht schlecht für einen Jazzschlagzeuger,
einen 100%igen Autodidakten, der in seiner Jugend King Crimson und Zappa,
aber auch Slayer und Morbid Angel hörte! Seine Ideen und seine augenscheinliche
Energie « Niggli kann wirklich ungemein für Musik begeistern « beeindruckten
eben schon viele Leute. Allgemein sind Notationen jedoch für Niggli
nicht immer der musikalischen Weisheit letzter Schluss. «Ich möchte,
dass die Musiker auf der Bühne nicht nur interpretieren, was auf dem
Blatt steht, sondern sich selbst auch interpretieren, sich selbst reingeben.
Ich glaube, immer Musik so zu schreiben, dass der Musiker diese Möglichkeit
hat. Bei «Zoom» haben wir mittlerweile einen Grad erreicht, das zu machen.
This is Freedom! Man kennt sich gut, und man reproduziert und interpretiert
Stücke, aber immer mit dem Ziel, sie neu zu erfinden. Und wenn das passiert
auf der Bühne, dann gibt es so einen Kick - Niggli ringt nach Worten
- das ist wirklich ein Fest!» Ohne intensiven Rausch geht es eben schon
mal gar nicht, und da krankt oft auch die komponierte Musik dran, weiss
Niggli. So sieht er beide Seiten und nimmt das Beste aus beiden Welten:
«Komplexeste schwierigste Musik, aber mit der Energie des Rock zu spielen
- Wow! Das ist einfach das Grösste!» Woher nimmst Du diese Energie,
Lucas? «Von meinem Schlagzeug. Trommeln ist eine wahnsinnige Tankstelle.
Und: ich bin zur Hälfte Hausmann - und das ist für Kopf und Herz die
schnellste, manchmal auch unfreiwilligste (lacht auf) Weise, Distanz
zu kriegen zur Musik. Und auch notwendig. Schon eine total andere Welt,
aber sie ist eben sehr wahr. Man hat einfach den Boden unter den Füssen,
man muss ihn unter den Füssen haben, denn sonst brichtís zusammen -
und das gibt mir auch immer einen riesigen Kick, weiterzumachen.»
Die starke
Kunst und das liebliche Leben
Niggli spielt regelmässig in der Züricher Werkstatt für improvisierte
Musik, für ihn eine sehr starke Quelle von Ideen. «Ich entdecke dann
auch immer wieder Probleme in der improvisierten Musik, in diesem ganz
freiem Spiel.» In welcher Hinsicht? «Es ist es so schwierig, in einem
ganz freien Kontext in einem Medium-Tempo zu spielen. Man neigt zu den
Extremen und den Radikalen, zu dem superenergetischem, hochenergie-dichtem
lautem Spiel, oder eben dann in dieser totalen Morten-Feldmann-artigen
Reduktion mit ganz viel Platz - aber in einem Medium zu spielen, das
braucht viel Vertrauen zu seinen Mitmusikern, das braucht auch viel...Mut!»
Niggli spricht das aus, was man selbst bereits viel zu oft erfahren
musste, und er ist besonders berechtigt dazu, da er in allen Improvisations-Kontexten
zuhause ist und die Extreme kennt. Mit den richtigen Leuten in einem
freien Kontext zu spielen, die sich eben auch mal zurückhalten können,
das macht Musik für ihn erst spannend. Oft aber stellt sich das bei
improvisierter Musik total anders dar: «Diese Coolness auf der Bühne»,
regt er sich auf, «das ist einfach nicht wahr!» Wie beurteilt er dann
das, was ich gerne den «Platzhirschfaktor» nenne, wenn vor allem Männer
improvisieren, denen beim immer lauter und heftiger werdendem Spiel
langsam aber sicher Hörner wachsen? Lucas lacht laut! «Man könnte das
ja «Steamboat» perfekt vorwerfen: Ja, lauter, schneller, aggressiver!
Genau das ist aber bei dieser Band das Gegenteil. Wir sind drei Papis,
wir haben zusammen sieben Kinder und sind total im pädagogischen Bereich
eingespannt. Bei «Steamboat» gehtís um Sterben, eher! Klar ist es ein
Rausch, und klar ist es geil (Lucas macht Motorgeräusche), aber wir
sind die uncoolste Band überhaupt! Man müsste Robert Walser zitieren,
der so etwas sagte wie: Kunst muss stark und heftig sein, und das Leben
weich und lieblich. Es geht in diese Richtung. Das finde ich toll.»
Diskographie
Kieloor Entartet - «No More Beer», Ex Libris 1990 Kieloor Entartet -
«A Good Dog Has A Day», UNIT Records 1992 Kieloor Entartet - «The Red
Light Fugue», UNIT Records 1995 Hoffmann-Niggli-Percussion - «Drumscapes
& Mute Songs», Creative Works, 1993 Sainkho Namtchylak - »Letters»,
Leo Records, 1993 Michael Gassmann Quartett - «Live», UNIT Records,
1993 Scholl-Erismann-Niggli-Frith-Koch-Kowald Ð »Nil», UNIT Records,
1996 Roots Of Communication - «Pro Helvetia», UNIT Records, 1996 Acoustic
Stories - Rahel Hadorn, Live At Moods, Red Note, 1997 Pierre Favres
Singing Drums, intakt, 1997 Steamboat Switzerland, UNIT Records, 1998
Roots Of Communication - Al Valico dei Secoli, Esperia, 1998 Lucas Niggli
& Sylvie Courvoisier - «LAVIN», intakt, 1999 Border Meetings Ð «Pedretti-Grichting-Schütz-Niggli»,
Altri Suoni, 2000 Pierre Favre Ð «European Chamber Ensemble», intakt,
2000 Steamboat Switzerland - «Budapest», Grob 315, 2001 Steamboat Switzerland
- «ac/dB (hayden)», Grob 316, 2001 Steamboat Switzerland - «unknown
song», Grob, 7, 2001 Lucas Nigglis ZOOM - «Spawn Of Speed», intakt CD
067, 2001
Marcus Maida, Jazzthetik, Juli 02
The
range of sound Ð pure, unadulterated sound Ð is so broad and grand that
it is hard to imagine that there are only three instruments producing
it. Lucas Niggli calls his trio ÒZoom,Ó and appropriately so. The percussionistÕs
thirteen compositions favor revved up tempos and lots of variety. Trombonist
Nils Wolgram is the sole horn, and this is this remarkable playerÕs
best recording to date. Wolgram straddles the line between the avant-garde
and post-bop, in much the same way as German trombonist Albert Mangelsdorff,
who is clearly a major influence on Wolgram, particularly with the multiphonics.
Totally exposed with only Niggli and eclectic guitarist Phillip Schaufelberger
with him, Wolgram dances up and down his horn, with incredible range,
fluidity, and punch. Niggli keeps the juices going, with oddball meters,
quick changes in direction, and plenty of melody sandwiched between
radical rhythms. Interest never wanes, and Schaufelberger gives a alternatively
funky and free-style lift throughout. Fun stuff that is curiously accessible,
not easily pigeonholed, and eerily unique. (4 stars)
Loewy Steven A. Loewy, All Music Guide, USA, March 2001
Saxophone,
bass and drum trios have been thick on the ground at least since Sonny
Rollins recorded A Night at the Village Vanguard in 1957. But substituting
brass for the reed, and/or a guitar or piano for the bass doesn't seem
to work as well. Evan as powerful a soloist as veteran trombonist Roswell
Rudd wasn't able to breathe life into recordings featuring the same
instrumentation as this disc. So why does Zoom loom where other's efforts
went boom to doom? Simple chemistry one would suppose. Swiss drummer-leader
Lucas Niggli, who wrote all but two of the tunes has already worked
with folks as diverse as British postrock guitarist Fred Frith, lyrical
Swiss pianist Sylvie Courvoisier and in Steamboat Switzerland, usually
described as an avant-hard core trio. Swiss guitarist Philipp Schaufelberger,
slides back and forth between understated mainstream sounds and a rockier
exterior, while German trombonist Nils Wogram -- the real find of this
disc -- is part of that Teutonic "outside" sackbut lineage that includes
Albert Mangelsdorff and the Bauer brothers.
On "Light Night," for instance, with its cartoon-like, stop-and-start
theme, Wogram indulges in a little throat singing along with valve work
when it comes time for his unaccompanied solo. That is after he's executed
runs so speedily that they almost slide into bop 'bone territory. Earlier,
on "Superblues," his plunger mute work shows that the ghost of Tricky
Sam Nanton must have possessed a few good Germans as well as Yanks.
At 1 minute, 49 second, "Poems & Theorems III: No Noodle," has a title
that's practically longer than the tune, yet it not only allows the
trombonist to launch a fusillade of bass notes, but also underscores
the teamwork of all three musicians.
Schaufelberger's light tone comes to the fore on semi-Balkan dances
such as "Hoax" or the light jig part of "Poems & Theorems V: Sch!" Yet
that tune and others such as "Blue & Grey" prove that weightlifter-powered
heavy guitar riffs can be added to concoction if needed.
While all this is going on, Niggli appears to be having the time of
his life. Assertive only where he has to be, and never indulging in
empty displays, he tries to nudge the songs along from the rear with
nimble rhythmic inventions. Consider the title tune, for instance, which
appears to morph from rock-inflection to free and back again, and which
is alive with percussion emphasis. Or ponder his mini-solo display on
"Lost," which is all gongs, cymbals and sticks.
Other sessions, usually of piano, bass and drums, have been dubbed "the
art of the trio," but this session gives that title a new currency with
different instruments.
Ken Waxman, www.jazzweekly.com, USA, Mai 2001
Souverän
Dem Schlagzeuger LUCAS NIGGLI, von dem schon als Dampfturbine des Brachial-Jazzcore-Outfits
Steamboat Switzerland zu reden war, begegnet man auf ganz anderem Terrain
mit seinem Trio ZOOM. Zusammen mit dem Gitarristen Philipp Schaufelberger
und dem Trompeter Nils Wogram führt er bei Spawn Of Speed (Intakt 067)
in einem doch sehr anderen Quadranten des musikalischen Orbits seine
komplex rhythmisierten, delikat melodischen Chamber-Jazz-Kompositionen
auf. Bekannt geworden war Niggli mit seinem einstigen Trio Kieloort
entartet, prägend war daneben seine langjährige Partnerschaft mit Pierre
Favre, etwa beim Singing Drums-Quartett oder dem European Chamber Ensemble.
Als historisches Vorbild für die lockere Folge von kammermusikalischen
Capriccios, jedes auf wieder andere Art eine Begegnung von Reissbrett
und Spielwiese, könnte man etwa so ein Kleinod des intimen Thirdstreams
wie Giuffres "Western Suite" mit dem Gitarristen Jim Hall und dem Posaunisten
Bob Brookmeyer anführen. Als aktuellere Parallelen "Bar Kokhba" vom
Masada Chamber Ensemble oder D. Douglas' "Charms Of The Night Sky".
Der Ansatz von ZOOM ist nicht eklektisch, sondern souverän, die Diversivität
der Anklänge und Stimmungen, vom Townshipbeat zum Lullabye, vom Fake-Evergreen
zur Zwölftonreihe wird nicht im Zappingverfahren montiert, sie ist organisch
eingebettet in das Mäandern entlang eines offenen 360¡-Horizonts. Integriert
in "Spawn Of Speed" ist Nigglis Sammlung "Poems & Theorems". In diesem
Titel wird die Dichotomie aus Formel und Unschärfe, Sophistication und
Kontingenz explizit. Dass "Spawn Of Speed" dabei aber völlig locker
und spontan klingt, macht die Magie dieser von Weitem betrachtet vielleicht
nicht sonderlich spektakulären Musik komplett.
Bad Alchemy, Würzburg, Deutschland, 38/2001
Komplex
- und doch so eingängig
Das Einfache, das so schwierig zu machen ist: Der Schweizer Schlagzeuger
Lucas Niggli spielt mit seinem Trio Zoom schwierige Musik, als ob das
alles ganz einfach. Er hat lange gewartet mit der ersten CD unter seinem
eigenen Namen. Natürlich gibt es längst einige wenige Aufnahmen des
32-jährigen Schweizer Schlagzeugers Lucas Niggli, mit Pierre Favres
European Chamber Ensemble etwa, mit der Pianistin Sylvie Courvoisier
oder auch mit den Gruppen Steamboat Switzerland und Kieloor Entartet,
die irgendwie auch seine Gruppen sind oder waren, aber: "Spawn Of Speed"
ist die erste Einspielung, die ganz und gar Nigglis eigene Handschrift
trägt. Zwei Jahre hat er sich dafür Zeit genommen, mehrmals haben die
drei Musiker während längerer Zeit zusammen intensiv geprobt, im Januar
vorigen Jahres haben sie das Repertoire auf einer Tournee gleichsam
getestet, um dann noch einmal während längerem daran zu feilen. Die
minuziöse Arbeit hat sich gelohnt: "Spawn Of Speed" ist ein Meisterwerk
geworden. Wollen tun viele, aber können tun dann doch die wenigsten.
Lucas Niggli ist mit höchsten Ansprüchen an dieses Projekt herangegangen;
er, der vielseitigste unter den jüngeren Schweizer Schlagzeugern, ein
Musiker, der im konventionellen Modernjazz und in der frei improvisierten
Musik ebenso zu Hause ist wie im experimentellen Hardcore-Jazzrock,
der das Spiel mit Sounds, Klangfarben in feinster Nuancierung ebenso
beherrscht wie das rhythmische Feuerwerk, der sich im freien, intuitiven
Ad-hoc-Spiel ebenso wohl fühlt wie mit präzis strukturierten, bis ins
Detail fixierten Arrangements, er hat sich vorgenommen, diesen ganzen
Überfluss in einen Guss zu bringen. Nicht zufällig, dass er sein Trio
Zoom nennt; der Name ist Programm. Niggli verwirbelt und verstrudelt
nicht alles mit allem, sondern zoomt einmal dahin, einmal dorthin, er
konzentriert sich bei jeder seiner 13 Kompositionen auf genau durchdachte
Konstellationen. Mit dem deutschen Posaunisten Nils Wogram und dem Schweizer
Gitarristen Philipp Schaufelberger hat er sich mit zwei Musikern zusammengetan,
die seinen Intentionen perfekt entgegenkommen. Wogram beherrscht sowohl
das jazzmässige Freespiel mit vielen Nuancen zwischen robusten, schnarrenden
Blasattacken, eleganten Melodielinien und balladesken Weichtönen, dazu
ein breites Repertoire an Noiseklängen, vom Knurren und Fauchen bis
hin zum Sirren und Wimmern. Und Philipp Schaufelberger oszilliert und
changiert blitzschnell zwischen konventionellen, swingenden Jazzlinien,
vertüftelten, klug gesetzten knappen Akkorden und einem differenzierten
Repertoire an dunkeln Bassklängen, Kratz- und Schabegeräuschen. Verzahnungen
und Brüche Bei all dieser Zoom-Technik ist "Spawn Of Speed" keine zusammengewürfelte
Musterkollektion von Nigglis vielseitigen Neigungen und Interessen geworden,
sondern ein in sich geschlossenes Werk mit einem starken roten Faden.
Die Collage- oder Modultechnik wird nie überstrapaziert; zwar gibt es
in den meisten Stücken überraschende Wendungen vom einen ins andere,
kühne Übergänge und vehemente Brüche, zwar wechseln die zum Teil komplexen
Rhythmen und Metren, die Klangkonstellationen, die Intensität und Dichte.
Aber: Während der langen Probenarbeit haben die drei Musiker so lange
an den einzelnen Konfigurationen getüftelt und gefeilt, bis die Verzahnungen
genau stimmen, die komponierten Passagen und die improvisierten Freigänge
zu einer kaum mehr unterscheidbaren Einheit zusammengewachsen sind.
So klingt denn diese Platte bei aller musikalischen und intellektuellen
Komplexität so leicht, so organisch und selbstverständlich, in positivem
Sinn eingängig, als könnte es gar nicht anders sein. Kurz: ein Meisterwerk.
Christian Rentsch, Tages-Anzeiger, 19. März 2001
Trommelwirbel,
nicht Paukenschlag
«Breit liegt der Mittag um uns, die mittägliche Stadt in Schwere und
Ausdehnung; am fernsten Rande der Himmel sitzt ein Wölkchen, man kann
sagen unwirklich; nur ÔTräumerÕ erspähen es: von dort her bricht es,
das in kurzem stadtbeherrschende Gewitter. [...] Nicht vom Zentrum aus
geschieht die Entwicklung, die Ränder brechen herein». Ludwig Hohl,
der diese Sätze in seinem Genfer Keller schrieb, arbeitete an diesen
Rändern. Er hat sie nicht zum Hereinbrechen gebracht, das Bild aber,
das er schuf, ist geblieben, wird immer wieder zitiert. «Seht, da kommt
der Träumer her», sagte Hohl, der Träumer ist der, der daran glaubt,
dass die Ränder hereinbrechen, der daran kratzt. Lucas Niggli ist so
einer, ein Träumer auf dem Schlagzeug. Wenn er spielt oder spricht,
vermittelt er immer das Gefühl von Leichtigkeit und Lust an seinem Tun.
Er hat etwas Spitzbübisches und im Gegensatz zum alten Hohl, der immer
wieder schwere Attacken gegen seine vermeintlichen Feinde ritt, unversöhnlich,
ist Lucas Niggli ein ausnehmend freundlicher Mensch. In seinem Info
steht: «Mit einem Trommelwirbel kam Lucas Niggli 1968 zur Welt». Nicht
mit einem Paukenschlag, dazu ist er viel zu verspielt, nichts Brachiales
ist in seinem Musizieren, er ist ein filigraner Schlagwerker, ein Klangtüftler,
ein Fabulierer. Einer der Eckpunkte in der musikalischen Welt von Lucas
Niggli ist sein ehemaliger Lehrer und jetziger Partner Pierre Favre.
Favre ist eine ausserordentlich starke Pädagogenpersönlichkeit. Schlagzeuger,
die ihr Handwerk bei ihm gelernt haben, haben bei aller Gegensätzlichkeit
Gemeinsamkeiten: Die wichtigste ist vielleicht die, dass sie mit der
traditionellen Begleitrolle, des Schlagzeugs nicht zufrieden sind. Sie
wollen aktiv ins musikalische Geschehen eingreifen, ihre Ideen einbringen.
Gleich in der ersten Band mit der Niggli arbeitete, übernahm er eine
tragende Funktion. Ende der achziger Jahre betrat «Kielohr Entartet»
die Szene. In diesem Fall ist nun wirklich von einem Paukenschlag zu
sprechen, innert Kürze spielten sich die vier jungen Musiker an die
Spitze. Mit Wohlwollen betrachteten die Älteren deren Tun, - und
engagierten sie in ihre Bands. So kam es, dass Lucas Niggli mit kaum
fünfundzwanzig der Crème der improvisierenden Zunft angehörte,
und mit klangvollen Namen auf Festivalbühnen in der halben Welt stand.
Runde zehn Jahre später fühlte er sich reif, seine eigene Band auf die
Beine zu stellen. Sie sollte so sein, dass seine musikalische Freiheit
nirgends beschnitten wurde, klein, wendig, und mit grosser Ausdruckspalette.
Die Form des Trios drängte sich auf und der zweite Mann war schnell
gefunden: der Gitarrist Philipp Schaufelberger. Fehlte noch der dritte.
Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen mit verschiedenen MusikerInnen
lernte Lucas Niggli den deutschen Posaunisten Nils Wogram kennen. Er
wusste sofort: der ist es. Spielte Wogram Violine, müsste man von einem
Teufelsgeiger sprechen, er wird als Nachfolger des grossen Albert Mangelsdorf
gefeiert. Um die Bandchemie zu testen, begann man zu proben, gab erste
Konzerte. Nach zwei längeren Tournéen nun trafen sich die drei
im Radiostudio in Zürich, um aufzunehmen. «Spawn of Speed» heisst die
CD, die vor kurzem beim Zürcher Label INTAKT erschien. Der Umschlag
zeigt Wolken. Zweifellos sind es jene Wölkchen von denen Ludwig Hohl
spricht. Diejenigen, wie nur Träumer wie Lucas Niggli sie erspähen,
die aber irgendwann ein Gewitter verursachen. Ein schweres Gewitter
wird es kaum sein, dazu ist Niggli zu sanft, aber dass seine Musik im
Zentrum etwas in Gang bringen kann, daran glaubt er schon. Die Ränder
sind sind schon ein wenig am Hereinbrechen.
Beat Blaser, Radiomagazin, Schweiz, 11/2001
Debüt-CD
von Lucas Nigglis Trio Zoom - Innere Zensurbehörde ausschalten
Der Schweizer Schlagzeuger Lucas Niggli veröffentlicht erstmals eigene
Kompositionen mit seinem Trio Zoom: Niggli über künstlerische Ideen,
musikalische Grossväter und über das Leben eines Schlagzeugers.
Geboren bin
ich in Afrika, in Kamerun. Nach sechs Jahren sind wir in die Schweiz
gezogen. Zuhause wurde viel musiziert. Ich hatte Gelegenheit, bei einem
Freund im Keller zu trommeln. So ging es los. Auf der Musikschule erhielt
ich einige Zeit Schlagzeugunterricht. Die Zeit an der Kantonsschule
Wetzikon war auch wichtig: Ich hatte Klavierunterricht, spielte Schlagzeug
in der Bigband und war im Chor. Mit zeitgenössischer Musik bin ich etwa
mit fünfzehn, Mitte der achtziger Jahre, in Berührung gekommen. Daneben
gab es auch die obligatorischen Rockbands, in denen ich gespielt habe.
Ich bin immer sehr breit gefahren, habe mich stilistisch nie festlegen
lassen. Ich wollte auch nicht Musiker werden - ich bin es einfach mit
der Zeit geworden. Die Jazzschule verliess ich nach einem Jahr wieder,
das Konservatorium kam für mich sowieso nicht in Frage. Tony Williams
ist derjenige Jazzdrummer, der mir von seinem Stil her am meisten bedeutet.
Sein Spiel auf Eric Dolphys «Out to Lunch» zum Beispiel - unglaublich!
Das Energetische daran liebe ich, das Nach-Vorne-Treibende von Williams
ist mir ganz nahe, auch sein Drumsound. Von meinem Schlagzeuglehrer
Pierre Favre hab ich sehr viel gelernt. Er ist jung geblieben. Einerseits
hat er in den siebziger Jahren Freejazz vom Wildesten gemacht, andererseits
verdiente er sein Geld als Drummer bei der Max Greger Showband. Unser
Verhältnis war nie konfliktgeladen wie bei einer Vater-Sohn-Beziehung.
Eher verhielt es sich zwischen uns wie bei einem Grossvater und seinem
Enkel - kein Konkurrenzdenken, sondern Respekt bestimmte das Verhältnis.
Mittlerweile sind wir auch dicke Freunde geworden. Unsere Art, über
Musik zu denken, ist ähnlich, obwohl es ästhetisch grosse Unterschiede
gibt. Unsere musikalischen Väter und Grossväter wie Pierre Favre mussten
sich damals erst freispielen von den bestehenden Konventionen. Das war
umständlich, auch im gesellschaftlichen Sinne. Einerseits hat das Energie
gekostet, andererseits entwickelte sich daraus Schubkraft, von der wir
heute noch zehren. Heute ist im Jazz alles gleichzeitig gültig. Verschiedene
Ansätze und Schulen laufen parallel nebeneinander her. Das führt aber
auch zu einer gewissen Haltlosigkeit, man sucht ständig nach neuen Auswegen.
Ich finde, dass das Suchen als selbst gewählte Aufgabe aber sehr spannend
ist. Wann ist der entscheidende Moment und wie filtert man ihn aus all
dem Ausschuss raus, der beim Üben entsteht? Für mich kommt Dogmatismus
nämlich überhaupt nicht in Frage. Es funktioniert genau andersrum, man
muss beim Musikmachen die innere Zensurbehörde ausschalten: Geht das
denn nun oder jenes? Ich finde strategisches Denken müssig; also bestimmte
musikalische Ideen aus antrainierten Gründen nicht zu realisieren, ist
für mich irgendwie gar nicht möglich. Ich behaupte jetzt nicht, mit
meinen dreissig Jahren schon die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.
Man darf sich aber auch nicht von äusseren Umständen lähmen lassen.
Ich bin ein grosser Freund von Tourneen, weil ich dann von allem befreit
bin. Zwei Mal war ich in Amerika. Einmal spielte ich zehn Konzerte mit
Stephan Wittwer und dann letztes Jahr drei Gigs mit Steamboat Switzerland,
in Vancouver/Kanada, Chicago und New York. New York war Scheisse. Wir
haben zwar im legendären «Tonic» gespielt, aber unsere Erwartungen waren
wohl zu gross. Wir kamen erst nachts um halb eins dran, die Backline
war Schrott. Alles ging schief. In Europa ist es dagegen viel entspannter.
Für mich sind kleine Auftrittsorte wie Nickelsdorf in Österreich oder
Willisau viel wichtiger, als durch die USA zu touren. Hans Falb und
Niklaus Troxler sind Menschen, die sich seit Jahren mit Liebe und Engagement,
für uns einsetzen. Um unsere Szene am Leben zu erhalten, sind solche
Leute unersetzlich. Nur durch Aktivitäten wie Touren oder Gespräche
komme ich weiter, entwickle ich überhaupt neue Ideen in Bezug aufs Musikmachen.
Deshalb ist das performende Spielen vor Publikum immer essenziell. Ich
habe ja Projekte mit Irène Schweizer oder Pierre Favre, andererseits
verfolge ich mit Steamboat Switzerland ohne Wenn und Aber das rein energetische
Spiel. Für mich war es nun an der Zeit, selber etwas zu machen, weil
sich in den letzten Jahren in den verschiedenen Formationen, in denen
ich spiele, sehr viel Material angesammelt hatte, das ich dort nicht
einbringen konnte. Meine eigene Gruppe zu gründen, war für mich deshalb
ein Schritt in die richtige Richtung. Zoom habe ich vor zwei Jahren
gegründet, um mich in der Musiklandschaft zu positionieren, in der ich
mich bewege. Das ist ein riesiges Feld. Generell ist das freie Spiel
in kleinen Formationen wieder ins Zentrum meiner Arbeit gerückt. Beim
freien Spiel bewegt man sich meist sehr schnell, entweder steht das
Hochenergetische im Mittelpunkt oder diese kaum noch zu messenden Morton-Feldman-artigen,
sub-langsamen Tempi. «Spawn of Speed» ist nun die erste Aufnahme, bei
der ich für die Kompositionen ganz allein zuständig bin. Darauf ist
wenig freies Material zu hören. Die Kompositionen sind jedoch stark
von freien Improvisationen beeinflusst. Die New Yorker Downtown-Szene
ist einerseits ein wichtiger Einfluss für uns, aber andererseits sind
wir geprägt von zeitgenössischer Musik und einer europäischen Auffassung
des freien Spiels. Als Vorbereitung auf das Album haben wir die Probeblöcke
komplett aufgenommen und nach Merkmalen wie Klangdichte untersucht.
Von diesem Ausgangsmaterial aus habe ich dann weiter komponiert. Meine
beiden Kollegen haben sich ebenfalls sehr engagiert. Überhaupt ist die
Zusammensetzung des Trios wichtig für den Sound: Philipp Schaufelberger
spielt Gitarre und Nils Wogram Posaune. Ich hab keinen Bassisten dabei,
weil ich selber Double-Bassdrum spiele und mit Posaune und Gitarre bereits
zwei Tenor-Instrumente an Bord sind. Auch ohne Bass haben wir einen
fetten Sound. Ich spiele nicht auf einem konventionellen Jazzschlagzeug,
sondern auf einem grossen Rockkit. Ich benutze ausserdem eine dritte
Bassdrum. Meine Drums sind auch präpariert, so dass sie klingen wie
gesamplet. Würde ich meine klaren stilistischen Anlehnungen mit einem
Bassisten realisieren, wäre es zu offensichtlich. So hat es etwas Transzendiertes.
Wenn die Roots durchdringen, klingt es bei uns leichter, aber auch spröder,
irgendwie verfremdet. Fernziel ist es, mit Zoom völlig frei zu spielen.
Wir haben jedenfalls einen riesigen Materialpool. Das Zeug sitzt. Auf
der nun anstehenden Tour sind wir aber nicht mit der Bearbeitung des
Materials beschäftigt oder mit unserem eigenen Stil. Wir sind inzwischen
so weit eingespielt, dass wir die Sachen einfach abrufen können, aus
dem geistigen Gepäcknetz holen. Wir können alles miteinander austauschen,
es an- und ausschalten, sozusagen. Das schnelle nervöse Spielen ist
durch die Samplingtechnologie noch erweitert worden. Elektronische Musik
verfolge ich deshalb mit grossem Interesse. Vor allem die Energieaspekte
daran sind mir wichtig. Ich will mich eben nicht festlegen lassen. Das
gilt auch für das Zoom-Projekt. Wir haben Solos drauf und Akkordfolgen,
aber wenn uns danach ist, programmieren wir am Computer Drum-'n'-Bass-Beats.
Solange man Sideman ist, wird man als Musiker mit eigener Identität
gar nicht wahrgenommen. Gerade jetzt, wo ich mich mit meiner eigenen
Gruppe exponiere, beschäftigt mich meine Identität. Mit anderen Projekten
gibt es schon manchmal Momente, in denen ich stöhne: Muss ich das machen,
oder wie lange muss ich das jetzt noch machen? Ich unterrichte auch
Schlagzeug. Man kommt um die Broterwerbsjobs leider nicht rum. Zudem
bin ich zu fünfzig Prozent Hausmann. Ich habe drei Kinder zu versorgen,
die machen nicht gerne Klimmzüge am Brotkasten. Es braucht eine unglaublich
grosszügige Partnerin, die das alles mitträgt. Manchmal ist die Bewältigung
des Alltags ein echter Balanceakt. Dann sieht mich meine Familie sechs
Wochen nur von hinten. Ein ständiges Kommen und Gehen. Dann bin ich
aber wieder sehr viel zuhause, kümmere mich um die Kinder, komponiere.
Das chaotische Leben eines freischaffenden Künstlers ist schon speziell.
Aber ich finde es auch spannend. Über meine Probleme vor fünf Jahren,
als ich noch keine Kinder hatte, kann ich heute nur schmunzeln. Heute
habe ich nicht mehr viel Zeit nachzudenken. Der Titel «Spawn of Speed»
ist auch davon geprägt, von diesem neuen Leben.
Protokoll: Julian Weber. WochenZeitung, 20.3.2001
Anything
goes, oder? - Lucas
Niggli und seine neue CD ÒSpawn Of SpeedÓ
Er ist ein Tausendsassa an den Trommelfellen, Becken und Gongs, der
ständig den Kopf voller Pläne und Ideen hat: Lucas Niggli, einer der
meistbeschäftigten Schweizer Musiker und gefragter Perkussionist sowohl
im zeitgenössischen als auch im Jazzbereich. Niggli ist bisher durch
seine enge Zusammenarbeit mit dem Perkussionisten Pierre Favre (seinem
früheren Lehrer) aufgefallen. Daneben spielt er in diversen Bands wie
z.B. Steamboat Switzerland Ð ein Orgeltrio, das die Kraft des Rock mit
Avantgarde würzt, und gibt Duo-Konzerte mit PianistInnen wie Sylvie
Courvoisier oder Jacques Demierre. Seit zwei Jahren hat er ein eigenes
Trio namens ZOOM, in dem sein perkussives Arsenal von den Gitarrenklängen
des Schweizers Philipp Schaufelberger und denen des deutschen Posaunisten
Nils Wogram ergänzt wird; als Òeinfach glückliche FügungÓ bezeichnet
er die Zusammenarbeit mit den beiden. ZOOM spielt originelle und kontrastreiche
Musik, die zwar ungeniert, aber nicht beliebig aus einem reichen Fundus
von Rock über Avantgarde bis Modern Jazz schöpft. Mehr und mehr Ð und
so gesehen ist ZOOM vielleicht ein programmatischer Bandname Ð geht
es Lucas Niggli um das Fokussieren: ÒDas zeigt sich z.B. in der Reduktion
auf akustische Instrumente. Ich bezeichne Philipp, obwohl er E-Gitarre
spielt, als akustischen Gitarristen: er verwendet kaum Effektgeräte,
seine Ausdrucksvielfalt erzeugt er durch Handwerk.Ó Auf die Frage, ob
das Pendeln zwischen verschiedenen Bands mit verschiedenen stilistischen
Ansätzen nicht auch eine gewisse Rastlosigkeit widerspiegle, meint Niggli:
ÒEs stimmt, dass aus diesem Pendeln nicht nur geistige Frische resultiert,
sondern manchmal auch grosse Irritation, weil die Kollaboration mit Pierre
Favre und vor allem die sehr intensive Arbeit mit Steamboat Switzerland
wirklich ästhetisch weit auseinanderliegen. Ich denke, dass mein Trio
ZOOM irgendwo dazwischen liegt. Gerade für mich als jungen Musiker ist
es toll, so verschieden zu agieren. Ich habe noch viel Zeit, aus diesem
breiten Spektrum meine Stimme herauszuarbeiten; die Zeiten, wo ein Mittzwanziger
seinen Sound gefunden hat, sind vorbei Ðdas âanything goesÔ hat tiefe
Spuren hinterlassen ...Ó ÒSpawn Of SpeedÓ, also ÒAusgeburt der SchnelligkeitÓ,
haben die drei Musiker ihre CD genannt. Das ist sicherlich mit einem
Quentchen Ironie zu lesen Ð was aber nicht bedeutet, dass die Titelgebung
an sich nach dem Zufallsprinzip oder nach dem Unterhaltungswert erfolgt.
ÒBlue & GreyÓ bezieht sich z.B. auf ein Rothko-Bild in einem Baseler
Museum; die Serie ÒPoems & TheoremsÓ dagegen fasst Stücke zusammen, die
entweder auf Òintellektuellen WurzelnÓ wie Zwölftonreihen basieren oder,
wie ÒPeaceÓ, dem Perkussionisten während eines Spaziergangs mit seinen
Kindern einfach zugeflogen sind. Der Reiz von ZOOM liegt hauptsächlich
in einer wohldosierten Balance zwischen strengen formalen Vorgaben Ð
Stücken, die quasi am Reissbrett konstruiert wurden Ð und lustvoll ausgelebter
Spontaneität: ÒIch stehe extrem auf komplexe Musik, nicht komplizierte
Ð das klingt meistens nicht Ð, daneben muss aber auch die spontane Reaktion,
das Fabulieren, Improvisieren, jederzeit möglich sein. Das kreiert eine
besondere Energie.Ó Dieses Konzept wendet ZOOM übrigens nicht nur auf
der CD, sondern auch bei Live-Auftritten an. Niggli: ÒEs wäre mir ein
Horror, wenn ZOOM-Konzerte in Routine erstarren! Deshalb arbeiten wir
live nach dem Modul-Prinzip.Ó Apropos Live-Auftritte: Lucas Niggli ist
derzeit viel mit dem Avant-Core-Trio Steamboat Switzerland unterwegs
und stellte auch im März ÒSpawn Of SpeedÓ in Österreich, Deutschland,
Italien und der Schweiz vor. Ein sympathischer Workaholic, der am Anfang
einer hoffentlich lang anhaltenden Karriere steht und sich in Bescheidenheit
übt: ÒIch bin einfach überall am Lernen, Lernen, Lernen ...Ó
Martin Schuster, Concerto, Wien, April 2001
Multi-talented
Swiss drummer/percussionist Lucas Niggli extends his already vast repertoire
with this tightly organized trio featuring trombonist Nils Wogram and
guitarist Philipp Schaufelberger. With the opener, ÒOxygene BeatsÓ the
listener will be treated to sprightly Caribbean motifs interspersed
with rapid fire, jazz-based unison choruses. Throughout, Niggli handles
the percussion chores yet exhibits a thoroughly musical approach via
his acute multihued tonal shading, propelling rhythms and feisty interaction
with his band-mates.
The trioÕs often complex arrangements feature free-jazz type dialogue,
rock rhythms, abstract thematic inventions and probing statements. On
ÒPoems & Theorems I: Brain BalladÓ, Schaufelberger and Wogram temper
the oscillating flow with softly stated lyricism atop NiggliÕs delicate
brush work. However, ÒLight NightÓ, features a series of expertly executed
yet difficult to perform time signatures amid interludes of subtle nuance
and highly charged exchanges. Essentially, thereÕs a whole lot going
on here, as the music seemingly emanates and converges from within diametrically
opposed angles in concurrence with the bandÕs imaginative excursions.
Recommended!
Glenn Astarita,
http://wwww.allaboutjazz.com/REVIEWS/r0601_123.htm
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