Über Lucas Niggli

Drehen und gedreht werden

 

von Andreas Felber

Ich bin ein Straßenköter!“ – Manche Sätze bleiben einfach im Gedächtnis haften und gehen dort um. Selbst wenn sie nur en passant hingeworfen wurden, als saloppe Zuspitzung eines Gedankens, im Grunde als augenzwinkernde Fußnote. Den „Straßenköter“ hat Lucas Niggli im Interview von der Leine gelassen. Seither ist der Hund los im Kopf des Gesprächspartners, nun Schreiber dieser Zeilen. Immer wieder taucht er hechelnd auf, will von verschiedenen Seiten betrachtet, untersucht werden im Hinblick darauf, was denn nun stimmt am Bild des vazierenden Vierbeiners für den Schweizer Schlagzeuger - und was nicht. Ein Straßenköter, das scheint einer zu sein, der sich nicht als Schoßhündchen eignet. Einer, der keine Hundeschule besucht hat, der zudem eher einzelgängerisch veranlagt ist, der nicht unbedingt einer Meute, einer Clique angehört. Einer, der nirgendwo so richtig zuhause ist und doch überall auftaucht: ein bunter Hund, wie man so sagt. Allerdings: Ein Straßenköter, das muss auch einer sein, der findig und kommunikativ genug ist, seinen Kopf über Wasser zu halten, eigene Überlebensstrategien zu entwickeln. Der seine Unabhängigkeit mitunter sogar zu genießen gelernt hat. Einer, der in sich selbst sein Zentrum findet?
Was das alles mit Lucas Niggli zu tun hat? Das kann im Grunde – wenn überhaupt – wohl nur er selbst beantworten. Während wir, die von außen Betrachtenden, uns nonchalant den Luxus eines spielerischen, hoffentlich nicht als despektierlich empfundenen Versuchs leisten, uns über einige dieser kreatürlichen Assoziationen dem Musiker in ihm anzunähern – im Bewusstsein der Gefahr, dabei mitunter in Sackgassen und auf Holzwege abzubiegen.

Undressiert

Es stimmt: In der Schule ist der Musiker Lucas Niggli kaum gewesen. Die üblichen Benimmregeln im Umgang mit der Jazztradition, das Repertoire des American Songbook, das kleine Einmaleins der Jazzpädagogik hat Niggli niemals wirklich verinnerlicht. An der Jazzschule St. Gallen hielt es ihn nur ein Semester, in Köln, Graz, Hilversum, Boston oder anderen Stätten der akademisierten Jazzausbildung ist er nie gewesen: Kreative Prokrustesbetten für einen Jungmusiker, der offenbar schon früh lieber seine eigene Spur erschnüffelte als denen anderer zu folgen. Was nicht heißt, dass Niggli ohne Input von außen geblieben ist. Niggli wählte seinen Lehrer bewusst und gezielt: Schon beim 11-Jährigen hatte einst ein Solokonzert Pierre Favres in Zürich einen tiefen Eindruck hinterlassen. Nach der Matura ersuchte der 19-jährige den 31 Jahre älteren Kollegen, selbst Autodidakt und eine der wesentlichen Triebkräfte der Emanzipation des Schlagzeugs als vielfärbiges Soloinstrument, um private Anleitung: Es war der Beginn einer fruchtbaren Meister-Schüler-Beziehung im Geiste des Eigen-Sinns, die bald in gemeinsames Musizieren einmündete, etwa in Pierre Favres Ensembles „Les tambours du temps“ und „Singing Drums“, bis hin zum Duo „The Poetry of Drums“. Niggli: „Ich habe von ihm gelernt, Fragen zu stellen. Er hat nicht Lösungen präsentiert, sondern Fragen gestellt. Das führt dazu, dass man schon früh an seinem eigenen Ding rumbastelt.“

Der Streuner

Die Frage nach dem „eigenen Ding“ war für Lucas Niggli also sehr bald virulent. In der musikalischen Praxis indessen war er einer, der stets in vielerlei Richtungen strebte: Schon für den Gymnasiasten bedeuteten die parallele Mitgliedschaft in Schul-Bigband, Schul-Chor und im Schweizer Jugend-Sinfonieorchester keinen Widerspruch. Nach der Matura erweiterte Niggli seinen Horizont durch Workshops u. a. bei Robin Schulkowsky bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, er vertiefte sich in Werke von John Cage, ließ sich von Edgard Varèses „Ionisation“ elektrisieren, lauschte den Grooves von Joey Baron, Tony Williams, Jack DeJohnette, aber auch von Terry Bozzio und Thrash-Metal-Schlagzeuger Dave Lombardo, spielte afrikanisch inspirierte Party-Musik in der Band “Atcha Makossa”. Um einige dieser Erfahrungen bereits ab 1987 im freigeistigen Improvisationskollektiv „Kieloor Entartet“ auszuarbeiten: Lucas Niggli, das Kind des postmodernen Anything-Goes, der Mann, der auf vielen Hochzeiten tanzte. Und der doch nirgendwo ganz er selbst war.
Ich habe manchmal darunter gelitten, dass ich zu begeisterungsfähig bin“: Noch so ein Satz, der sich im Gedächtnis des Fragenstellers eingenistet hat. Schon interessant: Lucas Niggli, dessen unverwechselbares musikalisches Profil heute teilweise gerade in seiner Offenheit, seiner Scheuklappenlosigkeit gründet, begegnete diesem Aspekt seiner Persönlichkeit lange Zeit mit ambivalenten Gefühlen. Denn die Frage nach dem „eigenen Ding“, nach der eigenen musikalischen Sprache, nagte am jungen Musikus. Der nicht vergaß, gleichzeitig die Fragestellung selbst (Pierre Favre muss stolz auf ihn gewesen sein!) zu relativieren: „Brauche ich eine Pseudo-Heimat?
                                                                                       
Ungeklärte Stammbaum-Fragen

Woher komme ich, wohin gehöre ich? Lucas Nigglis um das Thema künstlerischer Identität kreisende Gedanken berührten auch jene zu seinen musikalischen Roots. Auch hier stößt man auf interessante Unklarheiten, besser gesagt: auf manches, das Niggli für sich selbst bis heute im Unklaren belässt. Dabei ist die Geschichte scheinbar rasch erzählt: Lucas Niggli entdeckt noch im Volksschulalter die zu diesem Zeitpunkt bereits nur mehr als historischer Mythos existierenden Beatles für sich. Ringo Starr ist der Hero, der den Neunjährigen dazu veranlasst, selbst die Magie der Trommeln und Becken zu erproben. So weit, so unspektakulär.
Doch Nigglis musikalische Sozialisation umfasst noch ein Kapitel vor den Pilzköpfen: Er selbst spricht von „meinen afrikanischen Roots“ und will sich doch nicht festlegen, was es damit auf sich hat. Ein Blick in die Biografie hilft weiter: Kamerun findet sich dort als Geburtsort verzeichnet, nähere Angaben fehlen. Tatsächlich erblickte Lucas anno 1968 im Nordwesten Kameruns, unweit der Grenze zu Nigeria, das Licht der Welt, wo seine Eltern für die Entwicklungshilfe tätig waren. Die ersten sieben Jahre seines Lebens sog er die Farben, Gerüche, Stimmen und Klänge Afrikas auf. Er wuchs in einem Haus auf, in dem Schlitztrommeln, Balafone, Mbiras und Rasseln zum alltäglichen Spielzeug gehörten, an einem Ort, der einen festen Platz in seiner Erinnerung hat. Ob er dadurch bereits musikalisch geprägt wurde? Niggli, vorsichtig gegenüber vorschnellen, simplifizierenden Erklärungen,  schwankt zwischen Zweifel und Zustimmung. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage vermeidet er bis heute.

Der Rudelführer

Wer die Heimat nicht außerhalb findet, der muss sie in sich suchen. Ein altkluger Satz, den so oder ähnlich sicher schon viele buddhistische Weise formuliert haben. Wichtig ist: Lucas Niggli hat ihn in die Tat umgesetzt, indem er daran gegangen ist, sich sein musikalisches Zuhause selbst zu erschaffen. Nach „zehn  Jahren des Herumirrens“ (Niggli), nach Jahren als Sideman in unzähligen Bands, in denen auch der „Kieloor Entartet“-Nachfolger, das 1996 den Anker einholende „Steamboat Switzerland“ mit Dominik Blum und Marino Pliakas, Nigglis polystilistische Ausdrucksbedürfnisse nicht vollständig abdecken konnte. Niggli: „Ich habe mich oft gefragt: Wo steht mir denn eigentlich der Kopf? Wo ist denn die Heimat oder meine Sprache? Genau aus diesem Grund habe ich dann auch ‚Zoom’ gegründet, meine erste Formation, in der ich versucht habe, eben all diese verschiedenen Einflüsse, Erfahrungen, Wünsche und Visionen durch einen Trichter zu schicken und in meinen eigenen Kompositionen zu fokussieren.“
Die Initiierung von „Zoom“, des basslosen Trios mit Posaunist Nils Wogram und Gitarrist Philipp Schaufelberger, bedeutet anno 1999 eine wichtige Zäsur in Lucas Nigglis Werdegang: „Spawn of Speed“ heißt das erste CD-Dokument der Combo, in dessen Rahmen der Schlagzeuger nun seine hybriden musikalischen Interessen zwischen „Superblues“, auf dodekaphonen Allintervallreihen basierenden Kompositionen und vertrackten „odd meters“ lustvoll auslebt. Musik, die spätestens mit dem zweiten, 2002 in Saalfelden, Schaffhausen und Zürich live aufgenommen Album „Rough Ride“, am Punkt ist, so wie wir sie heute von Lucas Niggli kennen: Eine Vielfalt an Klängen wird da in den Raum geworfen, vielfärbig, plastisch, unkalkulierbar, frei und doch immer strukturiert, als Teil eines großen Bogens empfunden. Musik, in der sich Präzision und Vielschichtigkeit mit Anflügen einer musikantischen Grundhaltung paaren, die selbst in abstrakten Geräuschpassagen immer für sinnliche Erdung sorgt, gleichsam subkutan Puls und Linie spüren lässt. Man könnte sagen: Hier hat einer die Verbindung zur Straße nicht verloren.

Der Geschmack der Freiheit

Wer indessen den roten Faden gefunden hat, der kann ihn umso lustvoller wieder aufdröseln: „Celebrating Diversity“ benannte Niggli das zweite, 2006 veröffentlichte Album des großen Band-Bruders, des um Klarinettist Claudio Puntin und Bassist Peter Herbert aufgestockten Quintetts „Big Zoom“. Ein Titel als Programm, als Signum einer wieder gewonnenen, da nun als Errungenschaft, als positives Spezifikum akzeptierten Freiheit: „Irgendwann habe ich gemerkt, das ist so toll, das ist so bereichernd, ich würde das nie hergeben, diese Offenheit“, so Lucas Niggli, der heute umso unbekümmerter Kontakte in alle Richtungen knüpft: zu afrikanischen Musikern im Quartett „Beat Bag Bohemia“, zur aus Shanghai stammenden Guzheng-Spielerin Xu Fengxia, aber auch zu InterpretInnen zeitgenössischer Musik, etwa in Gestalt des Baseler „Arte Quartetts“. Und ebenso zu breitenwirksamen KollegInnen wie Erika Stucky, die in dogmatischen Kreisen der avancierten Improvisationsmusik mitunter als besonders verdächtig gelten.
Lucas Nigglis Offenheit stützt sich indessen auch auf ein konsequent gesponnenes Netz an Beziehungen und Partnerschaften. Ja, in Niggli, dem musikalischen Nomaden, schlummert eine treue Seele – weniger aus romantischen, denn aus konzeptuellen Überlegungen: Wer Musik als Prozess des kontinuierlichen Wachstums, der fortlaufenden Verdichtung und Präzisierung der musikalischen Interaktion versteht, und wer diese dennoch überraschungsreich, klischeefrei halten will, der muss sich mit anderen Charakterköpfen langfristig auf gemeinsame Arbeit einschwingen, der muss den Working-Band-Gedanken hochhalten.
Im Mittelpunkt des Beziehungsnetzes steht Niggli selbst, der als seine musikalische Heimat, als sein „Wohnzimmer“, heute nicht ein bestimmtes Stil-Feld, sondern vielmehr eine Tätigkeit angibt: das Schlagzeugspiel an sich. Und also dreht sich heute nicht mehr Lucas Niggli suchend um einen imaginären Mittelpunkt namens Identität, die Welt selbst hat begonnen, sich um Lucas Niggli zu drehen. Um einen Straßenköter, der immer noch einmal hier, einmal dort auftaucht. Der neugierig geblieben ist, der stets von Neuem Witterung aufnimmt. Und der – so scheint’s – zufrieden ist in der Gewissheit, dass ihn genau das ausmacht.

 

Andreas Felber lebt als freier Musikjournalist (Der Standard, Ö1) in Wien.

Dieser Text erschien im Programmheft JAZZTAGE BLUDENZ 2011.
LUCAS NIGGLI. A PORTRAIT IN MUSIC.

 

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