Michael Wüstefeld


11 SONGS – AUS TEUTSCHEN LANDEN

(dt + engl.)


Für Kenner der Jazz-Szene dürfte die Überraschung weniger groß sein, als für Jünger der Zupfgeigenhanselgemeinde: Das Zentralquartett macht aus seiner Herkunft keinen Hehl, bearbeitet deutsche Volkslieder und spielt sie, als wären die Noten von heute und nicht aus dem Mittelalter. Was in nahezu allen Genres zunehmend praktiziert wird, die Kunst einerseits im Regionalen zu verwurzeln, andererseits vielfältige Anregungen und fremde Traditionslinien aufzunehmen, ist dem Jazz schon lange eigen. Aber das «ZQ» in Volksliedern verwurzelt, die einstigen Quertreiber und Freidenker Bauer, Gumpert, Petrowsky und Sommer auf Deutschlandkurs? Die vier Improvisationskönner, die als Individualisten und als Quartett «Synopsis» Jazzgeschichte schrieben und sich mit ihrer Umbenennung im Orwell-Jahr 1984 über die heiligen DDR-Kühe «Zentralkomitee» und «Zentralagentur» lustig machten, auf den Spuren deutschen Brauchtums? Das zu behaupten, ist wohl mehr als übertrieben, denn wie der Volksmund sagt: «Der Ton macht die Musik.»
Jazzmusiker ließen sich immer schon von traditionellen Musikkulturen, von Volksmusiken inspirieren. Wenn das Volkslied nicht «Volkslied» sondern «Traditional» oder «Folksong» heißt, hat sich die Liaison zwischen Volksliedern und Jazz schon längst vollzogen, wird die wilde Ehe der scheinbaren Antipoden seit langem auch klerikal nicht nur geduldet, sondern in kräftigen Farben praktiziert. Ob Blues, Gospel oder Spiritual, ganz zu schweigen von Country oder Folk, sie alle haben ihre Beete dicht bei den Wurzeln bestellt und reiche Ernte eingefahren. Hinzu kommt noch, dass frei nach dem Motto, die ganze Welt ist voller Musik, die so genannte «Weltmusik» ein nahezu unübersehbar weites Feld geworden ist. Gleich ob am Nordpol oder am Südkap, längst scheint der einsamste Nomade entdeckt, vorausgesetzt er sondert reproduzierbare Töne ab.
Deutsches Volkslied und Jazz haben jedoch selten ein Verhältnis miteinander. Die Wege, die in «teutschen Landen» zum Volkslied führen, sind in besonderer Weise steinig und mit allerlei Unrat beladen. Es wurde und wird viel Schindluder und Missbrauch getrieben, nicht nur mit Tönen, auch mit Wörtern, von «deutsch» über «Volk» bis «Heimat» und «Vaterland». Dabei fing im 12. Jahrhundert alles ganz einfach an. Während Meistersinger und Minnesänger ihre Kunstliedolympiaden zelebrierten, zogen Bänkelsänger mit Moritaten über Land. Bereits aus dem späten 15. Jahrhundert sind mit dem «Lochamer Liederbuch» und dem «Glog-auer Liederbuch» erste Liedersammlungen bekannt. Es folgen 1778/79 Johann Gottfried Herders Sammlung «Volkslieder» (unter Mitwirkung von Goethe und Lessing), 1808 Arnims und Brentanos «Des Knaben Wunderhorn», 1844/45 Uhlands «Alte hoch und niederdeutsche Volkslieder» bis hin zu Breuers 1909 erschienenem «Zupfgeigenhansl», dem Liederbuch der Wandervogel- und Jugendbewegung. Darin aufgezeichnet sind alle nur denkbaren Liedtypen. Ob Liebes-, Tanz-, Trink- und Wiegenlieder oder Morgen-, Abend-, Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterlieder, nahezu alle Lebenslagen und -bereiche werden reflektiert.
Einige der wichtigsten Merkmale, mit denen Volkslieder definiert werden, sind, dass sie in ihrer Form und Gestalt starken Änderungen unterliegen, durch die Zeiten wandern und mitunter in andere Musikgattungen übergehen. Selbstverständlich gehen sie auch in den Jazz über. Schon deshalb muß es keinesfalls verwundern, wenn das Zentralquartett in schier unbändiger Spiellust nach diesen Wurzeln gräbt und die frei gelegte Quelle üppig sprudeln lässt. (Und wenn zwei Tracks sehr gegenwärtig sind, «alte Thüringer» Quelle sozusagen, heißt das nicht, sie bringen die Konzeption durcheinander. Auch sie bieten historische Bezüge, weil das eigene Erinnern schon Historie ist.) Die bekanntesten Lieder auf dieser Einspielung sind «Dat du min Leevsten büst», das unter der stürmischen Führung von Ulrich Gumperts Klavier zum Gospel wird, und «Es war ein König in Thule», von Gretchen in Goethes «Faust» gesungen, von Carl Friedrich Zelter im 19. Jahrhundert neu gesetzt, hier von Conrad Bauer zu einem hinreißenden Dialog zwischen Posaune und Maultrommel arrangiert, mit dem die CD ausklingt. Ansonsten aber wird nicht der tausendste Aufguß des weithin Bekannten als Heimathitparade serviert, nein, vielmehr dominiert die Rarität. Nicht: «Wenn ich ein Vöglein wär», sondern «Es saß ein schneeweiß Vögelein», das auch Johannes Brahms bearbeitet hat. Nicht: «Der Mai ist gekommen», sondern «Der Maie, der Maie», ein Ringeltanz aus der Zeit um 1550, dem kein geringerer als Hans Sachs Worte gegeben hat: «Ich trag ein freis Gemüte und weiß wohl, wem ich’s will». Nicht: «Es klappert die Mühle am rauschenden Bach, klipp klapp!», sondern das auf dieselbe Melodie passende, aber bei weitem ältere «Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus, Ade!». Nicht: «Heißa Kathreinele, schnür dir die Schuh», sondern der kecke Bauerntanz aus dem tiefsten 16. Jahrhundert «Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen». Und auch nicht das weihnachtlich überzuckerte «Kommet, ihr Hirten», sondern das alte thüringische Sommerlied «Kommt, ihr G’spielen», das als Streit- und Necklied zwischen Burschen und Mädchen, aber mit selbiger Melodie auch als altenglisches Jagdlied «The Hunt Is Up» (1537) bekannt wurde.
Dass nicht alle Volkslieder zwingend aus singenden, klingenden Volksmündern kommen müssen, sondern oft auch in sie hinein gelegt worden sind, zeigt sich am Beispiel von «Es fiel ein Reif». Der Liedersammler Wilhelm v. Zuccalmaglio (1803 – 1869), selbst auch Dichter und Komponist, behauptet zwar, «Es fiel ein Reif» sei ein bergisches Volkslied und er habe es «zu Wiesdorf 1823 aus dem Munde der Frau Lützenkirchen niedergeschrieben», vermutet wird aber, dass Zuccalmaglio selbst der Verfasser ist. Außerdem ist von Heinrich Heine eine veränderte Textfassung des Liedes verbürgt, die wiederum 1834 von Felix Mendelssohn–Bartholdy neu vertont wurde. Das «ZQ» kümmert die verzwickte Geschichte des Liedes wenig, und baut es zum umfangreichsten Stück der CD aus.
Hier wiehern Pferde, lachen Tanzweiber, schmachtet Liebe, trommeln Landsknechte, apokalyptische Reiter künden von Pest, Krieg, Hunger und Tod. Aber aus dem Zentralquartett sind keine vier Zupfgeigenhansel geworden, noch weniger hat es sich schunkelnd zum «blauen Bock» gemacht. Und gerade deshalb werden die Lieder nicht dem Spott preisgegeben, nicht denunziert. Mit diesen Stücken, einerseits fest gefügt, andererseits in explosiven Improvisationsstrecken schwelgend, ist es so ähnlich wie mit der Gegensätzlichkeit der Begriffe «zentrifugal» und «zentripetal»: sie wandern «aus teutschen Landen» weg und schaffen eine nach außen gerichtete Kraft, zugleich aber zielen sie als nach innen gerichtete Kraft mitten hinein. Das Zentralquartett wahrzunehmen, heißt einmal mehr, unsere Sinne werden zum Zentralorgan. Mit Ratio ist da wenig getan. Weshalb «11 Songs»? Warum aus «teutschen Landen»? Wer ist «Der alte Thüringer»? Wird «Kiekbusch» nur in Kiekebusch getanzt? Wer ist Jungfer Käthen? Durch welches Tor ritten die drei Reiter? Fragen, die zu stellen, müßig ist. Besser: Zentralquartett auflegen und Zentralorgan einschalten.
Michael Wüstefeld, Dresden 2005

 

 

11 SONGS – AUS TEUTSCHEN LANDEN

The project is probably less surprising to jazz connoisseurs than to the Zupfgeigenhansel community: the Zentralquartett makes no secret of its origin, arranges German Volkslieder, and plays them as if they had been written today rather than in the Middle Ages. What is increasingly common in almost all genres (both emphasizing the regional basis of an art and taking up multiple influences alien to the tradition) has been part of jazz for a long time. But ZQ rooting in Volkslieder, the former troublemakers and free thinkers Bauer, Gumpert, Petrowsky, and Sommer heading into deepest Germany? The four masters of improvisation made jazz history as individuals and as the quartet Synopsis and renamed themselves in 1984 (Orwell’s year) to mock the East German sacred cows «Central Committee» and «Central Agency» – these four following German customs? But this claim is surely exaggerated, for as the German saying goes: «The sound makes the music.»
Jazz musicians have always been inspired by traditional music, by folk music. Wherever a song is called not Volkslied but «traditional» or «folk song,» the liaison between such music and jazz has long since taken place, and the union of the two apparent antipodes has long since been accepted, even by purists, and practiced in extreme forms. Whether blues, gospel, or spiritual (let alone country or folk), such genres have all planted their gardens close to the roots and experienced rich harvests. Beyond that, following the idea that the whole world is full of music, «world music» has become an almost excessively complicated genre. Whether at the North Pole or on the Southern Cape, the most solitary nomad was apparently discovered long ago – assuming he emits reproducible sounds.
German Volkslieder and jazz, however, have rarely connected. The paths that lead to the Volkslied in «German lands» are especially rocky and covered with all sorts of rubble. A great deal of use and abuse has taken place, not only with sounds, but also with words, from «German» to «Volk» to «Homeland» and «Fatherland.» Still, everything started quite simply in the twelfth century. While master singers and minstrels took part in art-song competitions, balladeers roamed the countryside with street ballads. The first collections of such songs, the «Lochamer Liederbuch» and the «Glogauer Liederbuch», appeared in the late fifteenth century. Later publications included Johann Gottfried Herder’s 1778 / 79 collection «Volkslieder» (which Goethe and Lessing also worked on), Arnim and Brentano’s 1808 collection «Des Knaben Wunderhorn», Uhland’s 1844 / 45 «Alte hoch und niederdeutsche Volkslieder», and Breuer’s 1909 publication «Zupfgeigenhansl», the songbook of the Youth League and the «Wandervogel» movement. These books include every conceivable type of songs: love songs; songs for dancing, drinking, and children; morning, evening, spring, summer, fall, and winter songs – just about all of life is dealt with.
One of the most important characteristics of such songs is that they undergo serious changes in their form and shape as they wander through the ages; sometimes they even turn into other musical genres. Of course, they also turn into jazz. But that is enough to make it not at all surprising that the Zentralquartett digs down for these roots with sheer unbounded pleasure and bubbles along with the springs thus revealed. (And if two of the tracks are very contemporary, «Old Thuringia Springs,» as it were, they do not distort the concept. They, too, have historical references, for one’s own memory is already history.) The oldest songs here are «Dat du min Leevsten büst», which becomes gospel through the stormy leadership of Ulrich Gumpert’s piano, and «Es war ein König in Thule,» sung by Gretchen in Goethe’s Faust, arranged by Carl Friedrich Zelter in the nineteenth century, and here re-arranged by Conrad Bauer as an exciting
dialogue between trombone and Jew’s harp at the end of the CD. Otherwise, though, the CD does not offer the thousandth version of well-known works from the homeland hit parade; instead, the rarities are in the majority. Not «Wenn ich ein Vöglein wär» but «Es saß ein schneeweiß Vögelein,» also arranged by Brahms. Not «Der Mai ist gekommen» but «Der Maie, der Maie,» a round dance from about 1550 with words by Hans Sachs himself: «ich trag ein freis Gemüte und weiß wohl, wem ich’s will.» Not «Es klappert die Mühle am rauschenden Bach, klipp klapp!» but a much older song sung to the same melody: «Es ritten drei Reiter zum Tore hinaus, Ade!» Not «Heißa Kathreinele, schnür dir die Schuh« but a bold peasant dance from the depths of the sixteenth century, «Tanz mir nicht mit meiner Jungfer Käthen.» And not even the sickly sweet Christmas song «Kommet, ihr Hirten» but the old Thuringian summer song «Kommt, ihr G’spielen,» which became well-known as a teasing song between boys and girls and, with the same melody, as an old hunting song from England, «The Hunt Is Up» (1537).
Not all folk songs have to come out of the mouths of actual folk; often, they are put there, as with «Es fiel ein Reif.» The song collector Wilhelm von Zuccalmaglio (1803 – 1869), himself a poet and composer, claimed that «Es fiel ein Reif» was a song from the Bergisches Land that he «wrote down in Wiesdorf in 1823 after learning it from Frau Lützenkirchen,» but it is assumed that Zuccalmaglio wrote it himself. In addition, a different version of the song by Heinrich Heine is extant, which was set to new music in 1834 by Felix Mendelssohn-Bartholdy. The «ZQ» does not worry about the complicated history of the song and has turned it into the longest piece on the CD.
Horses neigh; dancing women laugh; lovers pine; soldiers drum; apocalyptic riders proclaim plague, war, hunger, and death. But the Zentralquartett has not turned into four Zupfgeigenhansel; still less have they become swaying costumed kitsch. That also means they neither mock nor denounce these songs. These pieces, both fixed in form and wallowing in explosive improvisations, are like the opposition between «centrifugal» and «centripetal»: they wander «out of German lands,» creating an outward-looking force, but they are also a force of interiority. To keep up with the Zentralquartett, our senses have to be our central organ. Rationality does little good here. Why «11 Songs»? Why «out of German lands»? Who is «the old Thuringian»? Is the «Kiekbusch» only danced in Kiekebusch? Who is the maid Käthen? Through what gate do the three riders ride? Such questions are idle. It is better to put on the Zentralquartett and turn on your central organ.
Michael Wüstefeld, Dresden 2005 | Translation: Andrew Shields

 

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